Kapitel 6 – 5 vor 12
„Nahm ich den
weniger beschrittenen Pfad, und dies machte den Unterschied...“
Mark starrte Catariel –
nein, die Repräsentation von Catariel – an, als wäre
er ein riesengroßes, komisch geformtes Schokoladenei mit
Schnapsfüllung. Der Engel zeigte ein Lächeln, und deutete
auf den Untergrund dieses Ortes, aus dem sich sofort zwei Sessel
formten, die aus dem gleichen Material wie die Oberflächen
bestanden. Er deutete Mark, sich zu setzen, was dieser tat.
„Wo sind wir
hier?“
„Auf einer anderen
Ebene. Die Magie, die wir anwenden, leitet ungeheure Kräfte
durch unsere Körper. Wähne dich glücklich, hier zu
sein.“
„Dann ist das hier
nicht real?“
„Es ist nur ein
Ort für deinen Geist, wenn es das ist, was du meinst,
Sterblicher.“
„Cat?“
„Ja?“
„Hör bitte
auf, mich Sterblicher zu nennen. Ich habe einen Namen, und der lautet
Mark.“
„Natürlich,
Mark, wenn du davon absiehst, mich Cat zu nennen.“
„Geht klar,
Catariel.“
Der Engel seufzte.
„Es ist nicht
einfach, die Welt zu retten.“
„Wem sagst du
das...“
Marks Gedanken
schweiften kurz ab.
„War das mit
Sharon wirklich nötig?“
„Denk nicht zu
stark an sie. Du unterbrichst den Zauber.“
„Aber reden kann
ich doch über sie, oder?“
„Konzentrier dich
auf die Barriere. Solange du das tust, kannst du sagen, was du
willst.“
„Aber war es
nötig?“
„Ich
weiß nicht, wie oft ich es dir noch sagen muss. Sie war eine
Verräterin. Ich habe es dir gezeigt.“
„Ich weiß.
Aber ich kannte sie so gut. Ich glaube nicht, dass sie mich
hintergangen hätte.“
„Du
dachtest, dass du sie kennst. Aber sie wurde dafür gezüchtet,
die Menschen zu unterwandern und in Versuchung zu führen. Auch
das weißt du.“
Mark kam
das ziemlich französisch vor; er hatte es nun schon so oft
gehört, aber irgendetwas in ihm wehrte sich dagegen.
„Allerdings ist es
ungewöhnlich, dass sie dich so lange unterstützt hat.
Vermutlich hat sie gespürt, dass du weiter kommen würdest
als die anderen Anwärter.“
„Dann hätte
sie mich gleich eliminieren sollen, anstatt zu riskieren,
aufzufliegen.“
Der Engel zuckte mit den
Schultern und deutete damit mehr als deutlich an, dass er hinter den
Aktionen des Dämons keine Logik sah – und auch nicht
erwartet hatte. Es herrschte zeitweilige Stille, und Catariel wandte
sich vom Paladin ab; zog sein Schwert und vollführte eine Art
Schattenkampf gegen einen nicht vorhandenen Schatten, was in seiner
logischen Inkonsistenz nur von seiner martialischen Schönheit
unterbrochen wurde. Es sah fast schwerelos und filigran aus, als
würde die Klinge nur aus Luft bestehen. Erst, als sich Mark
visualisierte, wie das Schwert durch Fleisch und Panzer schnitt und
heißes Blut vergoss, konnte er sich von dem hypnotischen Tanz
lösen, was sich wunderbarerweise mit dem Ende der Vorstellung
deckte.
„Warum tust du
das?“
„Es hilft mir bei
der Konzentration. Ich muss immerhin kompensieren, dass du keine
Übung in dieser Art geistigem Fokus hast.“
„Hey!“
„Das sollte nicht
beleidigend klingen. Ich bin es gewohnt, Tatsachen anzuführen.
Muss ich Zeit darauf verschwenden, sie in wohlklingende Formalismen
zu verpacken?“
„Nein, nein, schon
gut. Ich bin nur etwas durcheinander.“
„Das ist nur die
Anstrengung. Konzentrier dich. Sobald der Tag zuende ist, wird der
Druck gegen die Barriere nachlassen. Dann können wir uns aus
dieser Sphäre lösen und die Gefahr wird abgewendet sein. Es
sind nur noch wenige Stunden. Dieser Augenblick verlangt nichts mehr
von dir, als wach zu bleiben.“
Mark führte in
seinem Kopf eine andere Schlacht gegen wachsende Kopfschmerzen, die
er langsam, aber sicher verlor; Catariels Neigung zur unnötigen
Komplizierung seiner Elaborierungen trug jedenfalls nicht zur
Besserung der pochenden Äderchen in seinem Schädel bei. Die
Umrisse des Engels verschwammen langsam, und sein erstauntes Gesicht
war das letzte Bild, bevor sich diese Umgebung in Dunkelheit
auflöste. Nun fühlte sich der Paladin schwerelos, glitt
durch völlige Schwärze, auf der Suche nach einer Stimme,
die er vorher kaum vernehmbar im Hintergrund flüstern hörte.
Hier wurde sie deutlicher, verlor ihre Fremdheit, und erhielt eine
Identität – Sharon.
„Hilf mir.“
Er blickte weiter in die
Schwärze, versuchte, sie zu finden; ihre Stimme schien von
überall wiederzuhallen.
„Hilf mir!“
„Wo bist du?“
„Ich weiß
nicht...aber ich muss hier raus.“
„Du wolltest mich
töten.“
In der folgenden Stille
glaubte Mark für eine Sekunde, er hätte sie verloren, als
sie wieder sprach.
„Ja. Aber das war,
bevor ich dich kannte.“
„Du hast viele
getötet.“
„Auch das ist
wahr.“
„Warum sollte ich
dir glauben, und Catariel nicht? Er ist ein Engel, er kann wohl
schlecht lügen.“
„Catariel ist
nicht irgendein Engel. Er ist einer der wenigen, die sich ganz der
Jagd nach uns verschrieben haben. Er steht kurz vor dem Fall, schon
seit Jahrhunderten. Er kann sehr wohl lügen, denn es ist seine
Natur, ohne Rücksicht auf Verluste zu handeln.“
„Und warum hat er
dich nur gebannt und nicht getötet?“
„Er
wird mich töten, sobald er die Gelegenheit hat. Momentan will er
mich nur quälen. Er verurteilt mich dafür, dass ich ihn
hintergangen habe. Aber nicht, weil ich ihn verraten habe, sondern
weil er es nicht geahnt hat. Er hasst es, etwas nicht zu wissen. Und
abgesehen von Azrael ist er vielleicht das rachsüchtigste Wesen,
das je existiert hat.“
Er hörte den
Schmerz in ihrer Stimme.
„Er hat diesen Ort
erschaffen, wo er mich blenden kann, wo ich keine Macht habe. Er lebt
nur dafür, Leute wie mich betteln zu hören. Er ist ein
Inquisitor.“
Sie machte noch eine
kurze Pause.
„Ich hatte Angst.
Als ich weglief. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte.“
„Wovor hattest du
Angst?“
„Davor,
dass es weitergeht. Es war noch nie so ernst. Das wurde mir schon
sehr früh bewusst. Ich habe mich voll in die ganze Angelegenheit
reingeworfen, weil ich dachte, dass es diesmal wirklich das Ende
wäre. Es machte keinen Unterschied, ob ich dich töten würde
oder nicht – das Ende stand fest. Aber als wir da saßen,
um das Feuer, und ich deine Augen sah...Ich hatte auf einmal wieder
Hoffnung. Du glaubst so fest daran, dass du gewinnen wirst. Das wir
gewinnen werden. Ich hatte Angst, Angst davor, wie es werden würde
nach der Schlacht. Angst davor, wie es mit uns weitergeht. Ich bin
lange genug weggerannt, ich weiß, aber...“
„Was?“
Es war nicht die harte,
schnelle Frage, die Mark sonst gestellt hatte, sondern eher ein
langsames Flüstern.
„Ich hatte Angst
vor der Veränderung. Was ich werden würde. Was du werden
würdest. Was für Probleme ich dir bereiten würde. Sagt
dir der Begriff ‚persona non grata’ etwas? Das bin ich.
Jeder, der mit mir zusammen reist, macht sich automatisch zur
Zielscheibe. Ich...du hattest vorher schon genügend Probleme.
Ich wollte nicht, dass du auch noch meine mittragen musst. Aber es
ist egal. Bald werde ich sterben. Ich fühle bereits, wie ich
mich auflöse. Geh jetzt, Mark. Ich bin ein geringes Opfer, wenn
du dafür die Erde retten kannst.“
Mark schüttelte den
Kopf, was angesichts der Dunkelheit vielleicht etwas sinnlos war.
„Du verstehst mich
immer noch nicht. Aber ich habe etwas verstanden. Es wird Zeit.“
Mit Hilfe des ihm von
Catariel abgesprochenen mentalen Fokus richtete Mark seine Kräfte
auf die Auflösung der Barriere. Sofort war er wieder bei
Catariel, der ihn mit Schrecken anstarrte und panisch anschrie.
„Hör auf! Der
Zauber bricht noch zusammen.“
„Tut er das? Dann
liege ich richtig.“
Wieder in der Realität
angekommen fand sich Mark über dem Siegel in Schwebe; er blickte
um sich und sah die Barriere, ein farbiger Zylinder aus reiner
Energie, der das Siegel und damit ihn umrang. Unter sich sah er das
Siegel, oder dessen Reste; es flackerte, als wolle es sich wie eine
Luftspiegelung auflösen, und schimmerte schwärzlich unter
dem Ansturm der beiden Kriegsparteien, die sich momentan noch
vergebens abmühten, diese Welt zu betreten. Mark warf einen
letzten Blick auf Catariel, der außerhalb der Barriere stand
und nur noch leise mit dem Kopf schütteln konnte. Mark fixierte
ihn für eine Sekunde, dann zog er das Schwert aus der Scheide
auf seinem Rücken. Sofort erfasste ihn die Schwerkraft wieder;
er fiel direkt nach unten. Noch im Fall holte er weit aus und
schleuderte das Schwert dem Siegel entgegen; die Klinge durchbohrte
den geweihten Stein und spaltete das letzte Siegel der Apokalypse.
Eine Art übernatürlicher Explosion erfasste ihn, trug ihn
erst wieder kurz nach oben und schleuderte ihn dann zur Seite. Er
schlug auf der Erde auf, ohne sich ernsthaft zu verletzen, aber
musste sich trotzdem zunächst unter Schmerzen wieder aufrichten.
Während er in sich die geschundenen Muskeln regenerieren fühlte,
drehte er sich langsam zurück zum Siegel. Seine Hand griff in
den Mantel, fühlte die Maske, ließ dann aber davon ab. Er
fasste nach dem Schwert, das nun vor ihm auf dem Boden lag, richtete
es auf und starrte auf das Ziel seiner Reise.
Vor den Augen des
Paladins begann die Apokalypse.
Von Gatac
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