Kapitel 3 – Morgendämmerung
„Das
kalte Licht zeigte mir Dinge, die ich nie sehen wollte…“
Eine
geschlagene Viertelstunde später befanden sich Mark und Catariel
alleine in einem Zelt, allerdings waren sie nicht die einzigen Zeugen
ihres Treffens; denn der Paladin führte seine Stimme in einer
Lautstärke, dass die Soldaten es für sinnvoller hielten,
erst beim Verlassen der Schießbahn Gehörschutz anzulegen.
„Was zur Hölle
war das eben?“
Gegen Marks Ausbruch
berechtigter Wut war Catariels ruhige und besonnene Stimme fast
unheimlich kalt.
„Herr, sie hat
euch verraten.“
„Das weiß
ich selber, du Arschloch! Das weiß ich selber! Aber ich will
wissen, warum sie es verdammt noch mal getan hat.“
„Herr, es liegt in
ihrer Natur. Sie hat viele von deiner Blutlinie getötet.“
Mark sah sich kurz in
einem Schützengraben liegen, dann verflog das Bild wieder.
„Aber wieso jetzt?
Sie hatte viele Gelegenheiten.“
Mark wurde wieder
ruhiger. Zu viele Gelegenheiten…
„Sie spielt mit
ihren Opfern. Sie lässt sie an sich herankommen. Sie hat jeden
einzelnen mit dem Messer erstochen, während sie sich küssten.
Es ist ihr Modus Operandi. Euch hat vermutlich nur gerettet, dass ihr
euch so lange beherrschen konntet.“
„Du meinst, andere
Paladine sind ihr sofort verfallen?“
„Ja.
Wir wissen nicht genau, wie sie es bewirkt, aber immer präsentiert
sie sich als Opfer der Umstände. Sie erscheint demjenigen, an
den sie sich heftet, als nahezu perfekt. Nicht physisch schöner,
aber so, als wenn ihre Mängel liebenswert wären. Oder so
ähnlich – wir haben nur den Bericht einer Seele, die es
schaffte, ihrem Bann noch beim Sterben zu entkommen. Die Toten sind
manchmal…schwer zu verstehen. Und sie erinnern sich nicht an
viele Details.“
Mark lauschte auf. Besaß
Catariel etwa eine Art schwarzen Humor? Er fühlte sich etwas
besser, aber auf einer Skala von 1 bis 10 lag dieser Morgen immer
noch mindestens bei -6.
„Wo hast du sie
hingeschickt?“
„In eine Art
Gefängnis. Ich habe kein Recht, ein Urteil zu fällen.“
„Aber ich…ich
soll ein Urteil fällen.“
Mark verfolgte gerade
einen zufälligen Gedanken und zog mit dem Kommentar ein
ungläubiges Starren des Engels auf sich.
„Herr, ihr wurdet
geschickt, um zu richten; dies ist wahr. Aber eure Gefühle
dürfen das Urteil nicht trüben. Diesen Fall solltet ihr
einer anderen Macht überlassen.“
Mark fühlte die
Maske in seinem Mantel, als würde sie hell leuchtend in heißen
Flammen stehen, und lauschte einer seltsamen, fremden Stimme.
„Auch du wirst
einst gerichtet werden, Engel…euch alle werde ich richten.“
Er bannte
den Gedanken und die Stimme gewaltsam aus seinem Bewusstsein, und die
Präsenz der Maske verschwand langsam, zog sich in den
Hintergrund seines Unterbewusstseins zurück. Er schüttelte
den Kopf, um sich von den Nachwirkungen der fremden Präsenz in
seinem Geist zu erholen, dann schaute er wieder zu Catariel auf.
„Kann ich mit ihr
reden?“
„Ich kann euch
nicht zu ihr lassen. Einerseits ist sie ebenso gefährlich für
euch, wenn ihr in diesen Raum geht, und zweitens kann ich euch nicht
wieder befreien, ohne sie auch freizusetzen.“
„Aber…ich
muss zu ihr!“
Die erneute Lautstärke
seiner Forderung traf die lauschenden Soldaten vollkommen unerwartet,
und viele stolperten momentan benebelt zur Seite, um ihren
Gehörschutz erneut einzusetzen.
„Lasst euch Zeit,
Herr. Die Gefühle, die euch bedrücken, sind falsch. In
einigen Stunden werdet ihr euch besser fühlen und ihr Dasein als
die Konspiration erkennen, das es war.“
Mit diesen
Worten ließ Catariel den Paladin allein.
Draußen
saß Avenger auf einem umgestürzten Baumstamm, schärfte
die Klinge eines obszön großen Messers und redete ihn ganz
beiläufig an, in der Art, wie man sich nach dem
Gesundheitszustand der Ehefrau seines heimlich gehassten Nachbars
erkundet.
„Willst du mich
jetzt auch toasten?“
Catariel starrte sie an.
Er versuchte sich zu entsinnen, wer die Frau vor ihm war, erinnerte
sich schließlich und versuchte mit begrenztem Erfolg, eine Art
nicht bedrohliches, jugendfreies Lächeln auf seine Lippen zu
bannen, was jedoch schnell wieder verschwand, da der Vampir seine
Mühe keines Blickes würdigte. Leicht entnervt entschloss er
sich, einfach wahrheitsgemäß zu antworten.
„Es ist nicht
meine Intention, dich einer Hitzebehandlung zu unterziehen. Aber ich
nehme an, du willst wissen, ob ich vorhabe, dich ebenfalls zu bannen.
Das verneine ich. Ich habe nichts gesehen, was darauf hindeutet, dass
deine Geschichte nicht der Wahrheit entspricht. Vielleicht kann ich
dir sogar helfen.“
„Ja. Klar. Hör
mal, Cat, ich weiß, ihr Engel steht eher auf so direkte
Aktionen, aber bei Mark ist die Sache etwas kompliziert, und ich
finde es auch nicht gerade toll, dass du ‚ne Waffenschwester in
den Limbo geschickt hast. Lass uns einfach in Ruhe.“
„Ich bin mir
keines Fehlers bewusst.“
„Natürlich
nicht. Du hast doch das absolut Logische getan. Bravo. Willst du noch
einen Orden dafür?“
Catariels siebter Sinn
schaltete langsam, aber sicher auf Alarmstufe Rot.
„Ich verstehe,
dass es schwer ist…“
„Nein,
tust du nicht. Das ist nur eine Floskel für ein Gefühl, das
du nicht hast, weil du es nie besitzen kannst. Und davon, dass du es
vorspielst, wird es auch nicht besser. Also pack deine
Scheinheiligkeit in einen Koffer und reis endlich wieder ab. Für
heute hast du genügend Schaden abgerichtet.“
Der Engel war wieder
einige Sekunden ruhig.
„Es geht euch
nicht um mich. Ihr seid wütend, weil eure Gefährtin euch
verraten hat.“
Mit einem Satz sprang
sie auf und war vor ihm, das Messer bedrohlich in ihrer rechte Hand.
„Sie hätte
ihn fast getötet!“
Von einer Sekunde zur
anderen lag ihm der Vampir in den Armen; Avenger schüttete die
Reste ihrer Seele aus, und Catariel wusste nicht, ob er die Umarmung
erwidern konnte, ohne dabei seine Hände zu verlieren.
„Ich hab ihr
geglaubt…das haben wir alle. Sie…wir dachten erst
gestern, sie hätte uns an die Armee verraten, aber das ist ja
bis jetzt gut gegangen. Vielleicht hat sie Az getötet,
vielleicht hat sie uns die ganze Zeit sabotiert, so dass wir nicht
rechtzeitig hier waren…ich weiß nicht mehr, woran ich
noch glauben kann.“
Catariel war immer noch
etwas durcheinander, versuchte aber, so beruhigend wie möglich
zu klingen.
„Nun ist sie fort,
Kind. Mach dir keine Sorgen mehr darum.“
„Ich
habe Angst um Mark. Er wird etwas Dummes tun, das weiß ich
genau. Irgendetwas total Hirnloses. Er wird sich in Gefahr
bringen…ich glaube, er will nicht erlöst werden.“
„Ich kann seinen
Schmerz nicht lindern. Niemand kann das.“
Im Licht der aufgehenden
Sonne verschwand die Kriegerin endgültig und ließ nur noch
eine schluchzende Frau übrig.
Im Zelt saß
Mark und dachte nach. Viel zu viel spukte in seinem Schädel, als
dass er ein einzelnes Problem herauspicken und durchdenken konnte; er
stand vor einer Mauer aus weißem Rauschen, die er weder umgehen
noch durchstoßen konnte, und langsam verlor er den Kampf gegen
seine nachlassende Konzentration, gegen die einsetzende Müdigkeit.
Er hatte kaum geschlafen, aber das war er gewohnt; körperlich
war er nach seinen eigenen Maßstäben hellwach. Was ihm
mehr zu schaffen machte, war die seelische Erschöpfung, die
Schocks der letzten Ereignisse, die ihn langsam aber sicher
einholten. Azuriel war tot, verschollen irgendwo in den eisigen Höhen
Asiens, wo er sich tapfer gegen eine Übermacht gewehrt hatte. Er
war tot. Tot. Tot. Mark konnte es nicht akzeptieren, aber die Fakten
lagen viel zu eindeutig, um noch irgendwelche hoffnungsvollen Zweifel
zu hegen. Die kalte Logik brach gegen die mürbe Felswand aus
Erwartungen, zerschmetterte Erinnerungen und Träume, und selbst
die hartnäckigsten Bilder und immer wilderen Szenarien, die
Fakten mit einem Überleben des Engels in Einklang zu bringen,
scheiterten kläglich. Das Rationale ihn ihm brach nicht
irgendeine Klippe.
Es brach ihn.
Oft schon
hatte er irgendwo wach gelegen und sich gefragt, wer er eigentlich
war; üblicherweise geschah das nach den größeren
Aktionen, wenn er sorgfältig abwägte, ob er noch mehr
Verderben auf sein Gewissen laden konnte. Er hatte sich nie wirklich
als Verbrecher gefühlt; schließlich war er dafür da,
der Gerechtigkeit etwas auf die Sprünge zu helfen.
Konsequenterweise hätte er natürlich auch seinen
Auftraggeber eliminieren müssen, aber selbst als Jugendlicher
hatte Mark einen gewissen Pragmatismus entwickelt, dass er wenigstens
einen Verbündeten brauchte – und hinter sich aufräumen
konnte er immer noch, wenn er erst einmal den Rest erledigt hatte.
Heute erschien ihm die Einstellung hoffnungslos naiv, aber sein
Zynismus war nie so weit nach innen gedrungen. Irgendwo hatte der
Kreuzzug aufgehört und der Job angefangen – und jetzt war
er wieder auf einem Kreuzzug, stand kurz vor Bethlehem und sah die
Schneise der Verwüstung, die er durch das heilige Land gezogen
hatte. Sah die Armeen hinter ihm, nur noch getrieben durch seinen
eigenen Ehrgeiz. Er sah die Leichen seines Gefolges und seiner
Gegner, die seinen Weg säumten. Und er sah sich selbst, jünger
und idealistischer, wieder am Anfang der Reise, kurz davor, die
Fehler erneut zu begehen.
Er wusste, er konnte dem
jungen Krieger zurufen und ihn von seinem Weg ablenken, aber er tat
es nicht. Er wendete sich ab und blickte auf die Ruine dessen,
weshalb er den Weg auf sich genommen hatte; es war bereits in Schutt
und Asche gelegt, und in genau diesem Moment traf ihn die
Sinnlosigkeit des gesamten Unterfangens mit der Wucht eines
Vorschlaghammers.
Er brach zusammen,
bewusstlos, und von denn ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages merkte
er nichts mehr.
Von Gatac
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