Kapitel 4 – Fiat Lux
„Wie weit
willst du noch gehen, Lichtbringer?“
Das Ganze
reduzierte sich auf eine Glaubensfrage, auf mehr als einer Ebene.
Der behandelnde Arzt
glaubte, dass es, wenn es irgendwo eine Macht gab, die Mark Aaron
Simmons all die Jahre vor den Folgen seiner Verbrechen beschützt
hatte, sie ihn jetzt, wo er zur Abwechslung mal etwas wirklich
Wichtiges tat, auf keinen Fall im Stich lassen würde. Sein
Patient lag in einer Art Wachkoma; natürlich wäre es
falsch, hier dem „So etwas habe ich noch nie gesehen“ -
Klischee nachzugeben, aber das Fehlen eines offensichtlichen
Auslösers war tatsächlich merkwürdig.
Nicht ganz so merkwürdig
wie die schimmernde Aura um Marks Körper, aber hey, immerhin
etwas absonderlich.
Catariel
glaubte an seinen neuen Herrn. Er hatte über die Jahre viele
Schlachten erlebt, einmal sogar unter der persönlichen Führung
des Erzengels Gabriel. Er wechselte seine Anführer mit schöner
Unregelmäßigkeit, immer dort, wo er gebraucht wurde, nie
dort, wo der Sieg gefeiert wurde. Sicher, es war unwahrscheinlich,
dass er jemals Anerkennung für seine Taten finden würde.
Catariel und sein Chor von anderen Racheengeln – ausschließlich
Azrael und dem Herren verpflichtet – waren nicht dafür
geschaffen, beliebt zu sein. Sie waren Krieger, nicht wie Michaels
tumbe Soldaten, sondern echte Kämpfer, gerissen und im vollem
Bewusstsein aller ihrer Vor- und Nachteile. Mit ihrer Hinterlist
kamen sie den Menschen und ihrem freien Willen am Nächsten, was
sie mit einer besonderen Verantwortung ausstattete. Catariels Aufgabe
war es, die Gefallenen seines Chors wieder einzufangen, bevor sie
größeren Schaden anrichten können. Um die gefallene
Form von Shariel würde er sich später kümmern.
Sein neuer Herr litt,
und er konnte nichts tun. Also wartete er weiter.
Chrome
glaubte an Mark. Sie kannte seine Sorte Mensch; er war ein
Überlebender, von so vielen Dingen, die ihm das Leben entgegen
geworfen hatte, und jedes Mal war es seine Hand, die nach der
Schlacht wieder am Rand der Felsspalte auftauchte, verbrannt, aber
noch stark; jedes Mal humpelte er vom Schlachtfeld, getrieben von
einer inneren Unruhe – Sturheit –, so, als wüsste er
einfach nicht, wann man aufgab und sich endlich zum Sterben hinlegte.
Natürlich war das nicht nur seine eigene Energie; etwas hatte
vor langer Zeit von ihm Besitz ergriffen. Dass er kein normaler
Mensch war, hätte ihr jeder, der seinen Namen kannte, sagen
können. Langfristig musste die Kraft ihn zerstören, aber er
war niemand, der sich darüber Sorgen machte, wie es ihm in 10
Jahren gehen würde. Er war sein ganzes Leben lang auf diesem
Powertrip gewesen, hatte nie erfahren, wie sich ein Leben anfühlte,
das weniger intensiv war. Sie wusste es auch nicht. Wie konnte sie
auch?
Sie hatte die Musik
nicht gewählt, aber sie tanzte dazu.
Alle drei glaubten
jedoch, dass sich Mark gerade bewegt hatte. Dies entsprach auch den
Tatsachen (unter Vorraussetzung eines vierdimensionalen Raumes), und
ging konform mit dem Faktum, dass er vor sich hinflüsterte.
Chrome beugte sich über ihn und lauschte den leisen Worten für
ein paar Sekunden; Catariel sah sie daraufhin müde an und
fragte, was sein Herr gerade gesagt hatte.
„Ich glaube, er
sagte, er müsse sich festhalten.“
„Woran?“
„Keine Ahnung.“
Der Doktor
warf ein, dass der Paladin vermutlich gerade halluzinierte, was
sowohl für Engel als auch für Vampir einleuchtend klang.
„Schön
und gut“, sprach Chrome, „aber wovon träumt er?“
„Das
kann man nicht eindeutig sagen. Wir haben getan, was wir konnten. Den
Rest des Weges muss er allein schaffen.“
Thomas
hatte sich nicht die Mühe gemacht, zu Miriam zu laufen. Das wäre
Zeitverschwendung gewesen, da ihr Haus weder auf dem Weg zur Stadt
lag, noch über ein Telefon verfügte. Zeitverschwendung.
Thomas hatte keine Zeit zu verschwenden. Falls Mark etwas passieren
sollte – dann wären alle seine Opfer umsonst gewesen. Er
würde um seinen Sohn weinen, natürlich, denn er war auch
nur ein Mensch, und er hatte Gefühle, auch wenn er sie gut
verbergen konnte. Aber vor allem wären zwölf Jahre Arbeit
umsonst, und der Zeitplan endgültig ruiniert.
Der Wald bekämpfte
ihn, akzeptierte nicht, dass Thomas nicht akzeptierte.
Wenn Thomas
in einer etwas rationaleren Stimmung gewesen wäre, hätte er
eventuell daran gedacht, dass er ein Auto besaß, aber der Wagen
war noch zu neu, um in seinem Jahrzehnte alten Überlebensprogramm
integriert zu sein. Also lief er weiter, suchte die Karte in seinem
Kopf immer wieder nach einer schnelleren Route ab, rechnete aus, wie
viel Zeit er zum Überqueren der Hindernisse auf seinem Weg
brauchen würde. Eine Schlucht lag vor ihm, nicht unerwartet,
aber immer noch lästig. Er überlegte, wie er das Problem
lösen könnte. Er listete seine Vorteile auf. Nun, er hatte
ein Seil. Er war erfahrener Bergsteiger. Er war körperlich fit,
und verdammt motiviert. Nachteilig wirkte sich aus, dass er Mark
tragen musste. Alleine war diese Schlucht nur eine Frage der Zeit.
Aber mit dem nicht vertrauten Gewicht auf dem Rücken – und
bei der verfügbaren Seillänge stand Abseilen auch außer
Frage…
Er war so darin
versunken, dass er von der Gestalt neben ihm erst nach einigen
Sekunden Notiz nahm. Dann drehte er sich um und beäugte den
schlanken, fast schlaksigen Mann müde.
„Was willst du?“
„Brauchst du
Hilfe, Paladin?“
„Von dir nicht.“
Der Mann
lächelte und blickte über die Schlucht; sein wallendes
weißes Haar quoll über seine Schultern wie ein einziger,
zu Wasser kondensierter Lichtkegel.
„Du vertraust mir
nicht.“
„Warum sollte ich?
Wenn jemand es versteht, andere zu belügen und zu hintergehen,
dann bist du es doch.“
„Alles hart
erarbeitete Berufserfahrung.“
„Geh und nerve
jemand anderen.“
„Das
könnte ich tun. Aber dann verpasst du ein sehr interessantes
Angebot.“
„Halten wir also
fest, dass du nicht davon abzubringen bist, mich zu ärgern. Also
los, ich höre.“
Thomas
kniete sich hin und begann, Knoten in sein Seil zu flechten; der Mann
fuhr mit seiner Ansprache fort und ließ seine goldenen Pupillen
funkeln.
„Du weißt,
dass er es nicht schaffen wird.“
Thomas hielt inne.
„Es war sehr
unverantwortlich von dir, den Jungen nicht besser zu beschützen.
Selbst, wenn du über diese Schlucht springen könntest,
würdest du es doch nicht rechtzeitig schaffen. Wenn ich dir
nicht helfe, ist er verloren. Und du weißt, was das bedeutet.“
„Daran
interessiert mich höchstens, warum du nicht schon die
Siegesfeier ausrichtest.“
„Ach,
bitte, Thomas. Du enttäuschst mich. Glaubst du etwa an diese
Propaganda? Ich bin noch nicht mal der Obermotz, und mir liegt auch
nichts an Zerstörung. War ich nicht einst der Strahlende? Ich
verführe. Dazu muss ich jemanden haben, den ich verführen
kann.“
„Komm zum
Wesentlichen.“
„Du willst nicht,
dass er stirbt. Ich will nicht, dass alles vor die Hunde geht, und
deshalb muss er überleben. Lass mich ihn retten.“
„Welchen Preis
verlangst du?“
„Ich habe es satt,
Pläne zu schmieden. Ich will wieder wissen, was es heißt,
zu leben. Ich will seinen Körper. Zumindest teilweise.“
„Heute hast du
deinen Humor wohl zu Hause gelassen. Ich aber auch.“
Thomas
richtete sich zu voller Größe auf, ließ Mark sanft
zu Boden gleiten. In seiner rechten Hand materialisierte sich sein
Schwert, und dessen Klinge aus blauem Kristall glühte
bedrohlich. Der Mann grinste.
„Meinetwegen.
Ich bin dieser Existenz sowieso überdrüssig.“
Das Grinsen verschwand,
und in dem Stirnrunzeln wirkte der Mann auf einmal Jahrzehnte älter.
„Aber
lass mich meine Essenz mit seiner verschmelzen.“
Thomas hob sein Schwert,
dann ließ er es sinken. Der Mann nickte.
„Dann vertraust du
mir?“
„Nein, aber ich
sehe keine andere Möglichkeit.“
Die Stimme seines
Gegenübers warf das Echo schwer erkämpfter Ehrlichkeit.
„Danke, alter
Feind.“
Der Fremde
beugte sich über Mark und legte seine linke Hand auf die Brust
des Jungen; sofort atmete dieser leichter und regelmäßiger.
Schließlich erhob er sich, und mit einem Fingerschnippen wich
die Kraft aus ihm, ließ ihn alt und gebrechlich wirken. Mark
kam langsam wieder zu sich; er öffnete die Augen gerade noch
rechtzeitig, um zu sehen, wie sein Vater einen ältlichen Mann
mit einem Genickschuss aus der Garand exekutierte. Als er ihn fragend
ansah, antwortete Thomas knapp und gefühllos.
„Er
wollte uns überfallen.“
Er fiel wieder zurück
in die Dunkelheit. Aber irgendwo da drin, irgendwie – war jetzt
ein neues Licht.
„Er wacht auf.“
Mark
blinzelte schmerzhaft, im Clinch mit dem grellem Licht und den
zehntausend Nadeln, die selbige Beleuchtung durch seine Augäpfel
schickte. Die bunten, wabernden Formen in seinem Gesichtsfeld
formierten sich langsam zu Gesichtern, die sein Gedächtnis unter
Qualen Namen zuordnete. Catariel. Chrome.
„Wie fühlt
ihr euch, Herr?“
„Beschissen.
Wasser.“
Chrome
wollte ihm ein vorsorglich platziertes Glas stilles Mineralwasser
(mit einem leichten Schuss Bier) reichen, als ihr auffiel, dass es
sich nicht mehr auf dem nahe gelegenen Aktenschrank befand. Sie
verfolgte das flüchtige Flüssigkeitsbehältnis nach
einem selbst entwickelten Suchalgorithmus, fand jedoch das Getränk
aufgrund mangelhafter Programmoptimierungen erst nach einigen
Sekunden wieder – in Marks Hand.
„Danke, Chrome.“
Sie starrte Catariel an,
der sie mit einem nichts sagenden Schulterzucken bedachte.
„Was hast du
gesehen, Mark?“
„Keine Ahnung.“
Sie hörte die Lüge
hinter seinen Worten, ging aber nicht weiter darauf ein.
„Du warst seit dem
Sonnenaufgang total weggetreten. Wir haben uns Sorgen gemacht.“
„Dann danke dafür,
dass ihr nicht ohne mich mit der Party angefangen habt.“
Er richtete
sich auf. Betrachtete die Umgebung. In seinem Gesichtsfeld spielten
sich seltsame Farbkombinationen ab, wabernde, miteinander Fangen
spielende Farbflächen unbeschreiblicher Schattierungen. Es sah
gleichzeitig seltsam und vertraut aus. So – als würde er
zum ersten Mal wirklich alles sehen, und nicht nur eine gefilterte
Variante der Wirklichkeit. Er blickte auf Chrome, und sah nicht nur
sie…er sah Erleichterung, Sorge, Traurigkeit. Hoffnung. Dann
Erstaunen. Ob so Dämonen und Engel die Welt sahen?
„Doktor, da ist
irgendetwas mit seinen Augen.“
Das entsprach der
Wahrheit. Denn statt Pupillen, Iris und Augäpfeln waren dort nur
noch zwei Punkte aus weißem Licht.
Mark bemerkte ihre
Verwirrung, griff nach seiner Sonnenbrille und setzte sie auf; das
Leuchten verschwand fast vollständig hinter den getönten
Gläsern. Er schaute sich wieder um. Auf einem Stuhl lag sein
Schwert, und das komplizierte Arrangement von Gurten und
Pistolentaschen mit seinen Waffen hing von der Lehne nach unten. Er
lächelte. Er war wieder dort, wo er angefangen hatte. Jetzt
musste er es zu einem Ende bringen.
„Es gibt noch viel
zu tun.“
Dann grinste er sie an
und ließ sich zurück ins Bett fallen.
„Fangt schon mal
an.“
Als sie
gegangen waren, horchte er in sein Inneres. Etwas, dass ihn schon
seit Jahren begleitete, hatte sich endlich geregt. Das innere Licht
strahlte endlich hell genug, dass er es bemerken und kommentieren
konnte. Und zum ersten Mal seit langem fühlte er sich, als hätte
er die volle Beherrschung über sich selbst. Keine Reflexe, keine
vorbestimmten Handlungsweisen. Einfach nur er. Es fühlte sich
gut an. Doch das Licht schien sich in dieses neue Bild nicht
einzufügen. Es flackerte, als wäre es zwar stark, aber
unstetig, eine Glühlampe kurz vor dem Ausfall. Dann hörte
Mark eine Stimme, die von dem Licht zu stammen schien.
„Du hast mich
gesehen.“
Er schreckte aus dem
Feldbett hoch. Dass ging sogar für seine arg malträtierten
Realitätssinn eindeutig zu weit, so dass er für einen
Augenblick in der beruhigenden Vorstellung schwelgte, er würde
jetzt einfach vollkommen abdrehen. Die ganze Angelegenheit war nur
ein Fiebertraum. Ja. Alex würde ihn finden und zu einem Arzt
bringen. Nein. Wer war Alex? Phantom. Wahnvorstellung.
„Vater?“
Die Stimme in ihm
erbebte in leichtem Gelächter.
„Der Zweite.“
„Der Zweite ?“
„Der
Erste hat dich gezeugt, das mag sein. Aber ich habe dich zu dem
gemacht, der du jetzt bist.“
„Ich verstehe
nicht.“
„Was
verstehst du nicht? Wie es geschah? Das habe ich dir gezeigt. Warum
es geschah? Weil alles ein Ende hat, Mark. Weil ich das Ende wollte.
Es herbeisehnte. Aber die Engel waren wohl zu verzweifelt, um dich
abzulehnen. Wer sonst hätte dich genommen? Ein Massenmörder,
kalt und kalkulierend…du hattest viel zu viele getötet,
um berufen zu werden. Glaubte ich. Aber offensichtlich rekrutiert man
heute nach anderen Maßstäben.“
„Du hast…“
„Ich habe dich auf
den Weg gebracht. Und dafür gesorgt, dass du lange genug
überlebst, um verdorben zu werden. Ja.“
„Warum?“
„Weil du scheitern
solltest!“
„Tja, das hat wohl
nicht geklappt, du Schlauberger. Und jetzt, wo ich wieder richtig am
Steuer bin, werde ich dafür sorgen, dass hier absolut nichts
passiert.“
„Wie du meinst.“
Das Überlegene aus
der Stimme war gewichen und machte Resignation Platz.
„Aber
das alles ist Vergangenheit. Ich habe viel zu gründlich
gearbeitet. Es war eine göttliche Komödie, meinst du nicht?
Du hast genügend Macht, mir zu zeigen, wie sehr ich mich all die
Jahre geirrt habe, aber nicht genug, um es aufzuhalten. Ich kann dir
Macht geben. Oh, ich kann dir alle Macht geben, die ich habe. Das
werde ich tun. Aber helfen wird es nicht mehr.“
„Und wenn doch?
Wenn ich es schaffe?“
„Dann darf ich
ohne Übertreibung behaupten, dass ich Vasall deines Königreiches
wäre.“
Dann war die Stimme
verschwunden. Mark richtete sich auf, dann suchte er seine Klamotten
zusammen.
Konnten die Dinge nicht
wenigstens ein Mal so sein, wie er es glaubte?
Von Gatac
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