Epilog
Mark wachte mit dröhnendem
Schädel auf; er war mal wieder in seinem Sessel eingeschlafen,
und vor ihm flackerte der Abspann des alten Abenteuerschinkens, den
er sich angeschaut hatte, um die Zeit zu vertreiben. Vorsichtig, um
seinen Kater nicht mehr als notwendig in seiner Existenz zu
bestärken, erhob er sich und musterte seine kleine Wohnung. Sie
war nicht gerade besonders häuslich eingerichtet, aber er lebte
schon seit Jahren ohne unnötigen Ballast. Immer noch mit einem
flauen Gefühl im Magen stolperte er in Richtung einer bestimmten
Holzdiele im Boden, wobei ihm das Hinknien auf den Boden gut tat; als
er die Planke entfernte, war er bereits wieder auf dem besten Weg,
Klarheit zu erlangen.
„Ich bin Mark
Aaron Simmons. Unter dieser Bohle liegen meine Waffen. Heute werden
Menschen sterben.“
Er wusste nicht, warum
er es laut aussprach (wenn man ein Flüstern denn als laut
bezeichnen mochte), aber er fand es irgendwie beruhigend, es noch
einmal gesagt zu haben. Er rettete einen Koffer aus dem dunklen
Gemäuer unter dem Fußboden, und stellte das Gefäß
neben sich auf den Boden. Nach einer Sekunde angestrengten
Nachdenkens erinnerte er sich an die Kombination der Zahlenschlösser,
legte den Koffer auf die Seite und öffnete ihn.
Zwei USP Tactical mit
Ersatzmagazinen und Schachteln voller Munition grinsten ihm entgegen.
Mit professioneller
Routine lud er die Magazine und führte eine letzte
Funktionsüberprüfung durch; wie hypnotisiert betrachtete er
das Vorgleiten der Schlitten, lauschte dem Klicken der Verrieglung,
und streichelte einen der Schlittenfanghebel ganz nebensächlich;
seine Handgriffe waren eingeübte Automatismen, aber er war ganz
und gar nicht bei der Sache. Er beäugte die Waffen, spiegelte
sich in ihren blanken Stahlteilen, und wendete seine gesamte Kraft
dafür auf, ein mentales Echo zu verfolgen, das ihm keine Ruhe
ließ. Er betrachtete die zweckmäßigen,
ungeschmückten Griffschalen mit besonderem Interesse, so, als
hätten sie sich irgendwie um einen Nanometer nach oben
verschoben und würden damit die Harmonie der Waffe stören,
obwohl sie trotzdem vollkommen normal erschein. Er war kurz davor,
die Sache auf seinen Kater zu schieben, als ihn auf einmal eine vage
Erinnerung durchzuckte.
„Keine Munition
mehr...“
Er schaute in den
Koffer, in die Magazine. Es dürfte locker reichen, um die 7
Ziele auszuschalten, aber die Logik verdrängte das Gefühl
einer primitiven, ursprünglichen Angst nicht. Mark konnte das
Gefühl nicht einordnen, aber zum zweiten Mal seit dem Tod seines
Vaters empfand er tiefe, echte Angst, nicht nur vorrübergehende
Panik oder ein ungutes Gefühl. Er schüttelte sich,
versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. So viel hatte er nun doch
auch nicht getrunken...wurde er einfach langsam instabil? Er kämpfte
diesen Gedanken nieder, hielt sich den kühlen Stahl der Pistole
an die Stirn, wurde eins mit der Waffe, fühlte die Spannungen im
Metall des Schlagbolzens, roch den Gestank des Kordits, sah die
Felder und Züge des Laufes vor seinem geistigen Auge. Er wurde
der Angst nicht Herr, aber er fühlte, dass sie gerechtfertigt
war. Irgendetwas würde schief laufen, irgendwie würde es
ganz gewaltig in die Hose gehen...
Klarheit umfing ihn. Er
fühlte seine eigene Sterblichkeit, als würde sie vor ihm
stehen und ihm schon einmal die Hand schütteln.
Rastlos sprang er von
seinem Stuhl auf, hetzte zur Grube zurück und zog einen zweiten
Koffer hinaus. Er riss ihn förmlich auf, griff nach einer H&K
MP5SD6 und lud die Waffe mit zittrigen Händen fertig, wonach er
mit der Maschinenpistole im Anschlag auf die Tür zielte. Nach
einer Sekunde Ruhe rollte er sich zur Seite weg und überstrich
mit dem Visier das einzige Fenster seiner Bude. Als er dort ebenfalls
keine Gefahr ausmachte, entspannte er sich wieder, beschloss jedoch,
die MP für den Auftrag mitzunehmen – 30 Schuss, haben oder
nicht haben...
Als er wieder zurück
zu den USPs blickte, sah er sofort die Veränderung. Selbst die
matt brünierten Bauteile hatten nun einen gewissen Glanz, und
der Schlitten war so silbrig hell, dass er fast blendend wirkte. Dann
fielen ihm die eingravierten Kreuze auf den Griffschalen auf, und
Bilder überfluteten ihn; Gesichter, drei, immer klarer mit jeder
Wiederholung. Mark fasste sich an den Kopf, versuchte die plötzlichen
Kopfschmerzen unter Kontrolle zu kriegen. Neben ihm flackerte die
Realität, als wollte ein Objekt sich manifestieren; der Schmerz
wurde fast unerträglich, und als er kurz davor stand, zu
schreien, entzündete sich auf einmal der Inhalt des Papierkorbs.
Sofort war der Schmerz weg; Mark beachtete das nun materialisierte
Schwert nicht, als er in die Küche rannte und eine Kaffeekanne
voll kaltem Wasser über das kleine Feuer goss.
„OK. Jetzt noch
mal ganz langsam.“
Er betrachtete das
Schwert, das nun auf dem Tisch lag. Ihn durchfluteten wieder Bilder,
aus verschiedenen Zeiten, und er meinte, sich ein oder zwei Mal
selber als der Kämpfer zu erkennen. Als er das Schwert griff,
fühlte es sich richtig an, so, als hätte er es schon Jahre
besessen, und ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, steckte
er es in die Scheide, die erst seit knapp fünf Sekunden an
seinem Rücken befestigt war. Noch wusste er nicht alles, aber er
war sich sicher, dass er mit der Zeit lernen würde, die
Erinnerung an etwas, das er wirklich erlebt hatte – da war er
sich sicher – vollkommen wiederzugewinnen. Er bannte die Bilder
in seinem Kopf auf denselben Block Papier, auf dem er auch seine
Opfer skizzierte, um aus den Portraits, den einfließenden
Emotionen, einen Plan zu entwickeln. Als er fertig war, hielt er drei
Bilder in den Händen; eine Frau scheinbar osteuropäischer
Herkunft mit einer großen Sonnenbrille vor ihrem wie eine Maske
getragenen Gesicht. Ein Lateinamerikaner, mit struppigem Haar und
einem schelmischen Lächeln. Und eine junge Frau mit unnatürlich
hellem Haar. Er betrachtete die Bilder einige Minuten, konnte sich
jedoch an keine weiteren Details erinnern. Schließlich gab er
es auf und griff nach dem Hörer des altmodischen Telefons auf
seinem Tisch. Er wählte aus dem Gedächtnis eine Nummer und
wartete zwei Klingeltöne ab, bevor er mit der Person am anderen
Ende das Gespräch aufnahm.
„Alex? Mark hier.
Hör mal, der Job geht klar, aber statt der Kohle brauch ich
Informationen. Ich lass dir nachher mal drei Phantombilder zukommen.
Find die Typen für mich. Ich glaube, die sollte ich kennen
lernen...“
Mark starrte aus dem
Fenster. Er wusste, was zu tun war.
Joaquim Marcos
verschüttete fast seinen Kaffee über den glühenden
Asphalt des Hafens von Genua, als er in schallendes Gelächter
ausbrach. Sein Partner – Diego Trulla, ein alter, kräftig
gebauter Schreibtischtäter mit mehr Geheimratsecken als jedes
verschwiegene parlamentarische Polygon – beäugte ihn müde,
lächelte dann aber auch. Mit seinen ständig zugekniffenen
Augen erinnerte er nicht wenige Leute an eine etwas ältere
Variante von Bud Spencer, ließ aber etwas von dessen Charme –
und Körperkraft – vermissen, was ihn etwas niedlich und
harmlos erscheinen ließ.
„So witzig war das
nun auch wieder nicht, Jo.“
Der junge Polizist –
wie immer gekleidet mit einem seiner schrulligen Hawaiihemden –
grinste ihn an.
„Ist aber mein
Lieblingswitz. Gehen eine Nonne und ein Papagei...“
Er musste wieder kurz
lachen, bevor er sich fangen konnte.
„’tschuldigung.
Der ist einfach genial.“
„Ja, aber es
reicht, wenn du einmal darüber lachst. Du verscheuchst uns noch
die Schmuggler.“
„Die haben wir
schon verscheucht, bevor wir überhaupt am Revier in den Wagen
gestiegen sind.“
Diego lächelte
wieder, diesmal jedoch schmerzhafter.
„Ja, da hast du
recht. Wir verdienen uns unser Gehalt mal wieder mit Nichtstun.“
Joaquim klang auf einmal
ebenfalls ernster.
„Einige Dinge
müssen sich ändern. Ich will nicht mein Leben damit
verbringen, Katz und Maus mit Leuten zu spielen, die meine nächsten
drei Schritte schon kennen. Diego, du weißt doch, wer es ist,
oder?“
„Es ist ungesund,
es zu wissen, und noch ungesünder, es zuzugeben. Also werde ich
beides nicht tun.“
Jo starrte ihn flehend
an.
„Hilf mir, diesem
Wahnsinn ein Ende zu bereiten.“
Diego schmetterte seinen
Kaffee auf den Asphalt, und ließ einen seiner berüchtigten
Wutausbrüche vom Stapel.
„Verdammt noch
mal, Kleiner!“
Der Kaffee verdampfte
aus dem geborstenen Pappbecher; seine flüssigen Anteile rannen
dem nächsten Gully entgegen, schafften aber nicht einmal die
Hälfte der Strecke, ehe sie in einer kleinen Pfütze ihr
Heil suchten und das Regenwasser schrittweise mit Koffein
anreicherten. Diego sah nicht mehr wütend aus, nur noch traurig.
„Du verstehst das
nicht. Ich habe eine Familie. Ich werde bald pensioniert. Du hast
noch den ganzen Idealismus von der Polizeischule in deinem Herzen.
Aber die Welt ist nicht schwarz und weiß. Sie ist grau,
verdammt, und zwar ein ziemlich dunkler Ton davon! Ich fühle
mich selber schon wie ein feiges Arschloch, da musst du nicht
nachhelfen.“
„Ich wollte dich
nicht aufregen. Es ist nur...“
Joaquim starrte auf das
blaue Mittelmeer.
„Irgendwo liegt
die Wahrheit, und ich fühle, dass sie mich sucht. Ich will ihr
entgegen gehen.“
Die Stimme aus dem
Hintergrund unterbrach die Szenerie.
„Und Schnitt!
Danke Leute, super Einstellung!“
Raphael Santiago –
denn so hieß Joaquin Marcos, wenn keine Kamera auf ihn
gerichtet war – zündete sich sofort eine selbst gebaute
Filterzigarette an; die mit ihrer Asymmetrie genau den Charme ihres
Besitzers verkörperte, ohne wirklich schlampig zu wirken. Er
winkte dem Schauspieler zu, dessen Partner er spielte...dieser hieß
wirklich Diego, und zwar Marcos, was regelmäßig für
ein paar Seitenhiebe beim Durchgehen des nächsten Drehbuchs gut
war, ansonsten aber keinen erstaunte. Raphael meinte, gehört zu
haben, dass Diego früher tatsächlich Polizist war, aber da
er sich nicht über die selbst für Raphael erkennbare
Weichzeichnung investigativen Alltags aufregte, bedeutete ihm
entweder sein Beruf nicht viel, oder er war es einfach leid, in
Erinnerungen zu schwelgen. Raphael machte sich eine geistige Notiz,
daran zu denken. Man konnte nicht der Liebling aller Mitarbeiter
sein, wenn man sie irgendwie aufregte, und Raphael war der Liebling.
Nicht nur der Crew; nein, von Millionen begeisterter
Fernsehzuschauer. Dass er irgendwann mal in einer Serie als Polizist
mitspielte, betrachtete er als notwendigen Schritt seiner Karriere,
obwohl er zugeben musste, dass ihm die Rolle sehr gut gefiel; Joaquim
war genau das richtige Image. Abenteuerlustig, aber mit kühlem
Kopf; ein Draufgänger, wenn es um offensichtlich sinnlose
Vorschriften ging, aber ein echter Gentleman den Damen gegenüber;
kurz gesprochen also ein sympathischer, athletischer junger Bursche,
Vertrauen erweckend und immer bereit, ein paar Schurken den Tag zu
vermiesen.
Aber Raphael spielte
keine Rolle mal eben so daher. Er hatte sich massenhaft in Handbücher
und Trainingsvideos für angehende Polizisten eingearbeitet. Er
kannte die Tricks und Kniffe. Und er hatte jeden schlechten
Polizeifilm auf Gottes grüner Erde gesehen und ausführlich
mit den Drehbuchautoren diskutiert, welche Klischees nötig
waren, um der Serie ihren Schliff und ihre Distanz von der
Wirklichkeit zu geben, und welche einfach nur dämlich und
langweilig wirkten. Wie jeder gute Filmheld hatte er eine eigene
Waffe; eine tschechische CZ 75, auf seinen Wunsch hin, obwohl niemand
wusste, woher Raphael überhaupt diese Waffe kannte. Diego führte
irgendeinen Revolver mit einem obszön großen Kaliber. Laut
den Drehbuchautoren spiegelte das den Kontrast zwischen Jugend und
Schnelligkeit auf der einen sowie Alter und Stärke auf der
anderen Seite wider, aber Raphael dachte, dass es den Effektbastlern
die Gelegenheit gab, mal wieder richtig Krach zu machen und
spektakuläres Mündungsfeuer auf die Videobänder zu
bannen, was ja nun auch beileibe keine schlechte Tat war.
Aber Raphael war aus
einem ganz anderen Grund für die Rolle wie prädestiniert.
Er beherrschte
Kampfsport. Nicht irgendeine dahergelaufene Massensportart wie Karate
oder gar Jiu-Jitsu; nein, sein Stil war nicht nur ernsthaft effektiv,
sondern auch komplett obskur, und selbst Raphael gab der Sache keinen
Namen und weigerte sich beständig, zu erzählen, woher er es
konnte. Die schlichte Wahrheit war, dass er es selber nicht so genau
wusste; er hatte vage Erinnerungen an ein paar Übungen mit
irgendeinem Sensei, und akzeptierte das als Erklärung für
sein Talent. Das kam der Serie und ihrer Pseudogewalt zu Gute;
sicher, man konnte sich verkloppen, in Hafenbecken schmeißen
oder kräftig Blei in die Heide jagen, dass Blumentöpfe
zersprangen, aber beim beiläufigen Erschießen von Personen
hörte der Spaß auf, und deswegen war es umso wichtiger,
dass Joaquin überzeugend seine Gegner im Nahkampf überwältigen
konnte, und dadurch sogar noch heldenhafter erschien. Hinter ihm
wurde ein neues Set aufgebaut, und die Crew aus Effektspezialisten
präparierten seine Pistole, denn dieses Mal würde er einen
Gangsterboss auseinandernehmen, und Joaquin würde keine andere
Wahl haben, als ihn in einem spektakulären Gefecht mit und ohne
Waffe zu besiegen. Natürlich würde er den Gangster leben
lassen. Joaquin tötete keine Menschen.
Raphael zündete
sich eine neue Zigarette an. Joaquin hatte Recht. Die Wahrheit war da
draußen und suchte ihn.
Irene Hansen starrte
gleichfalls auf das Meer, aber ihr Wasser war gespickt mit leuchtend
weißen Eisbergen. Erneut kam ein beißender Windstoß
auf sie zu und wehte ihr kleinen Flocken von Pulverschnee ins
Gesicht, oder, präziser ausgedrückt, gegen die
Kälteschutzmaske und Schneebrille, die ihrem Gesicht unter der
dicken Kapuze Schutz spendeten. Sie fror nicht mehr; nach einigen
Monaten im polaren Sommer hatte ihr Körper aufgehört, ihrem
Gehirn zu melden, dass es trotz der dicken Pelzschichten und den
Isolationsanzug darunter einfach scheißkalt war. Sie
beobachtete die treibenden Schollen für ein paar Minuten, dann
wendete sie sich ab und ging zurück zu dem Schneemobil, dass sie
hierher gebracht hatte. Mit seiner Lackierung aus Signalorange hob es
sich mehr als deutlich von dem allgegenwärtigen, teilweise
schmutzigem Weiß dieser Eiswüste ab, was schon vielen
Leuten zu gute kam. Sie gehörten jedoch zu den Leichtsinnigen;
Irene zufolge gab es nur Menschen, die ihr Leben ernst nahmen, und
solche, die es nicht taten. Sie gehörte zu der ersten Kategorie,
was wohl auch der Grund war, dass sie mit immerhin 27 Jahren keine
Familie besaß – wobei ihr allerdings ein abstürzendes
Flugzeug, als sie noch 22 war, mehr als ausreichend Schützenhilfe
gegeben hatte – und ihre Existenz der Erforschung der
Polargebiete gewidmet hatte.
Sie wollte etwas ändern.
Persönliche Opfer waren ihr egal.
Aber deswegen war sie
nicht lebensmüde, oder auch nur unvorsichtig; ihre Arbeit konnte
nur vom Nutzen sein, wenn sie sich selbst erhielt, und deswegen war
Irene nicht nur geradezu paranoid bei der Mitführung von
überlebenswichtigen Gegenständen aller Art oder bei der
Bestimmung der Dicke von Eisflächen, sondern auch in jeder
freien Minute im Fitnessraum des Basislagers anzufinden. Nicht, dass
es unter dem Pelz einen großen Unterschied machte. Allerdings
war sie auch in anderen Belangen so skrupellos wie im Umgang mit
ihrem Körper; Miss Hansen führte in ihrem Privatgepäck
Fotoabzüge ihrer Schießpokale, und man munkelte, dass sie
das auf ihrem Rücken befindliche Jagdgewehr nur ablegte, wenn
sie denn Duschen ging. Da sie der einzige weibliche Teilnehmer der
Expedition war – gegen den ausdrücklichen Rat der
Organisatoren, denen jedoch die Mitarbeit einer Expertin ihres
Kalibers das Risiko einer Klage wegen sexueller Belästigung wert
war –, konnte niemand das Gerücht wiederlegen oder
bestätigen. Nicht umsonst trug sie den Spitznamen Eiszapfen.
Ruhig und distanziert
gab sie ihre Messwerte über Funk an die Bodenstation weiter und
ließ von der Ladefläche des Schneemobiles einen kleinen,
aber robusten Wetterballon steigen. Auf dem Rückweg zur Basis
nutzte sie die Wärme in der Kabine aus, um die Skimaske kurz
anzuheben und einen Riegel mit der konzentrierten, furchtbaren Kraft
von Apfelmus zu verspeisen. Etwas ihres bräunlichen Haares
bahnte sich seinen Weg ans Licht; verärgert stopfte sie es
wieder unter die Maske zurück und hatte sich selbst wieder in
die unnahbare Wissenschaftlerin mit perfekt sitzender Schutzkleidung
verwandelt, als sie das Lager erreichte. Ein paar der Männer
dort starrten sie an, als erwarteten sie eine Strandschönheit im
Bikini. Irene konnte es ihnen kaum verdenken, aber sie musste ein
Zeichen setzen; sie würgte den Motor des Fahrzeugs lautstark ab,
was die beiden Kollegen wieder aus ihrer Trance riss. Ein weiteren
strenger Blick, der ohne jeden Widerstand durch ihren Schneebrillen
schlug, und sie wendeten sich wieder ab.
Irene verbrachte die
folgenden zwei Stunden damit, Michael – dem Leiter der
Expedition, der irgendeinen komplizierten walisischen Nachnahmen
besaß und es gerade so tolerierte, mit seinem anglikanisierten
Vornamen angesprochen zu werden – über ihre Funde in
Kenntnis zu setzen. Es war nichts wirklich Bahnbrechendes dabei, aber
das war auch nicht das Geheimnis einer guten Expedition – es
gab nämlich nie den echten Durchbruch. Der kam erst später
bei der Auswertung und Korrelierung. Jetzt war es erst einmal
wichtig, möglichst viele Messdaten zu sammeln.
Am Abend wurde es nicht
dunkel. Irene war das relativ egal; ihre Unterkunft konnte fast
vollkommen lichtdicht abgedunkelt werden, und erst unter diesen
Umständen setzte sie die allgegenwärtige Schutzbrille ab.
Sie hatte immer empfindliche Augen gehabt und schon in der Schule
ständig eine vom Arzt verschriebene Sonnenbrille getragen. Was
ihre Klassenkameraden anging, war Photosensibilität eine echt
coole Krankheit. Irene fand es eher lästig, aber sie hatte ihr
Image entsprechend ausgerichtet. Langsam schälte sie sich aus
den unendlich vielen Schichten Schutzkleidung, die zwar ihr Überleben
in der Eiswüste sicherten, aber das Anziehen im Dunkeln zu einem
Geduldspiel machen konnten – außer für Irene, deren
Photosensibilität ihr seltsamerweise auch ein verstärktes
Nachtsichtvermögen bescherte. Jedenfalls schrumpfte ihre
Kleidung zusammen, bis sie nur noch eine lockere Trainingshose und
ein Tanktop trug. Sie begann ihre Trainingsrunde mit ein paar
saftigen Klimmzügen; die stahlharten Muskelpakete an ihren Armen
streckten und dehnten sich in der ursprünglichsten aller
Darstellungen reiner körperlicher Kraft. Dies wäre weniger
bedenklich gewesen, wenn Irene wenigstens etwas geschwitzt hätte.
So kam sie kaum außer Atem; ihr eigenes Gewicht konnte sie
schon seit Jahren hieven, und jetzt reichte es gerade noch, um sich
für die härteren Übungen aufzuwärmen.
Etwas durchzuckte sie.
Sie ließ die Stange los und landete relativ sanft auf dem
Boden.
Wie hypnotisiert hob sie
das Tanktop an und führte ihre Finger über die Narben auf
ihrem Bauch. Sie waren ein Teil von ihr, etwas, von dem sie wusste,
dass es nie einfach verschwinden würde, weil es nicht möglich
war. Sie erinnerten sie immer wieder an das Ereignis, dass ihr Leben
aus der Bahn geworfen hatte. Sie war in dem Flugzeug gewesen. Sie
hatten alle den Absturz überlebt, wenn auch schwer verletzt.
Warum hatte sie es als
Einzige geschafft, lebend aus dem Bergmassiv zu entkommen?
Weil sie alle retten
wollte. Sie hatte ihre Eltern, ihre kleine Schwester, selbst den
Piloten mitgeschleppt. Drei Tage lang, während sie ihr einer
nach dem anderen wegstarben. Sie hatte Medikamente, Nahrung und
Energie auf Menschen verschwendet, von denen sie selbst mit ihrem
begrenzten medizinischen Wissen wusste, dass sie keine Chance hatten.
Die Hoffnung hatte sie getrieben. Sie waren alle tot. Hätte sie
sich nur entscheiden können...einen hätte sie retten
können. Kein Zweifel. Es hatte viel mehr als die Narben auf
ihrem Körper hinterlassen.
Sie schaute auf die
Papiere, die auf einem kleinen Campingtisch neben ihr lagen.
Die Wahrheit lag
irgendwo jenseits dieses Eises.
Der Frying
Dragon Nachtclub in Singapur war bis zum Bersten gefüllt mit
jungen Leuten, die einfach nur tanzen wollten. Das war weniger
ungewöhnlich als der Name des Clubs; er war relativ neu, erst
vor wenigen Jahren eröffnet, und man erzählte sich, der
Besitzer wäre ein junger Amerikaner, der sich mit dem Besitzer
des ursprünglichen Frying Dragon Restaurants in den Vereinigten
Staaten angefreundet hatte und dessen Geschäft übernommen
hatte, nun ständig expandierte und bei der ganzen Angelegenheit
ordentlich Geld scheffelte, was er zum Aufbau eines eigenen
Karate-Dojo verwendete, und irgendwo in der ganzen Geschichte kam
auch noch ein Kampfsportturnier und der Chuck Norris vor,
und...eigentlich war alles viel zu kompliziert, und so richtig
interessierte es keinen. Jedenfalls war der Frying Dragon ein guter,
moderner Club, mit regelmäßig eingeflogenen Gast-DJs und
genügend Ausgangsleistung in der Anlage, um sie zum Abreißen
baufälliger Gebäude verwenden zu können. Letzteres war
natürlich nur einer der Sprüche, die man so abließ,
aber in der Umgebung des Clubs gab es auffällig wenige alte
Häuser, also war vielleicht doch etwas dran.
Der Frying Dragon Club
hatte noch eine weitere Spezialität. Seine Türsteherin.
Die Dame
war, wenn man sie genauer kannte, recht umgänglich, freundlich
sogar, wenn man es denn nicht darauf anlegte, sie zu ärgern. Sie
war zunächst einmal nicht im Entferntesten asiatisch. Das war in
Singapur nicht eben ungewöhnlich; eine Ausländerin jedoch,
die in einem ansonsten rein asiatischen Club arbeitete, silberfarbene
Haare besaß und sich dann auch noch anschickte, mit
muskelbepackten Kerlen zu konkurrieren, war da schon um einige
Kategorien seltener und seltsamer. Allerdings war sie auch sehr gut
in ihrem Job. Niemand wusste so genau, woher sie kam, was sie
langfristig in Singapur wollte, oder warum sie diese Arbeit gewählt
hatte. Gegenüber solch tiefschürfenden Fragen war es fast
schon egal, dass niemand ihren Namen kannte. Allerdings hatte sie
sich mit ihrem unglaublich hellen Haar und ihren fast genauso
unglaublich schnellen Rausschmissaktionen bereits einen Spitznamen
eingefangen, den sie nach kurzer Überlegung nun anscheinend
permanent verwendete. Er war wirklich nicht kompliziert oder schwer
zu erraten, und deshalb nahm ihn jemand in den Mund.
„Quicksilver?
Alles klar bei dir?“
Sie identifizierte die
Geräuschquelle als das Mundwerk ihres Freundes, stellte ihr
Gesicht auf Lächeln und begrüßte ihn.
„Alles im grünen
Bereich, Andre.“
Andre war ein weiteres
Kuriosum. Er hatte letztes Jahr mal eine Geschäftsreise nach
Singapur unternommen und sich sofort mit der Stadt angefreundet. Nun
schleppte er seinen teuren Armani-Anzug spazieren, ließ seine
blankpolierten Zähne blitzen und lächelte sie an. Er war
die perfekte Kreuzung aus griechischer Statue und modernem
Geschäftsmann; groß, mit wohlgeformten, strategisch
platzierten Muskelpaketen, angenehm ruhigen und filigranen
Gesichtskonturen trotz seines markant großen Kinnes, und
smaragdgrünen Augen, die – wie Quicksilver wusste –
hauptsächlich der Verdienst von zwei Kontaktlinsen waren und wie
alles andere zum Image dazugehörten. Grüne Augen waren
selten; Andre nutzte das aus, um seinen exotischen Appeal
unterschwellig zu unterstreichen, ohne wirklich fremd zu wirken. Er
erinnerte sie an die verbesserte, gesäuberte, jugendfreie
Version von irgendjemandem...vermutlich ihr Vater, der war ziemlich
muskulös. Nicht, dass sie ihn dieses Jahr schon gesehen hatte –
er trieb sich mal wieder in Lissabon rum, bei der Postproduktion
irgendeiner Fernsehserie. Das machte er ständig – er hatte
seine eigene Wohnung ausgeschildert, weil er manchmal jahrelang
unterwegs war, und manchmal schon zweimal umzog, ohne die jeweiligen
Apartments je betreten zu haben.
Unter diesem Aspekt war
es natürlich noch verwunderlicher, dass sich Quicksilver als
Türsteherin verdingte. Wie gesagt, ein absolutes Kuriosum.
Andre war genau der
gleiche Typ wie ihr Vater. Er und sie hatten eine Art
Wochenendbeziehung, jedes vierte Wochenende (außer Weihnachten,
da konnte er sich manchmal eine ganze Woche freimachen), und
verstanden sich generell gut. Jedenfalls verschwendete sie nicht viel
Zeit mit irgendwelchen weiteren Floskeln; sie packte Andre am Schlips
seines neuen Anzugs und zog ihn zu einem intensiven Kuss heran. Sie
genoss es. Er war überrascht, wehrte sich aber nicht. Die Menge
tobte. Einer grölte dazwischen.
„Wie ist sie im
Bett?“
Andre überlegte
kurz, dann rief er lauthals zurück.
„Wie Quecksilber.
Schon bei Raumtemperatur fl...“
Den Satz konnte er nicht
mehr beenden, als ihn ein sanfter, aber deutlicher Schlag von ihr in
die Magengrube traf. Es war eine freundliche, scherzhafte Warnung,
aber er spielte trotzdem mit und krümmte sich, bemüht, ein
möglichst schmerzhaftes Gesicht zu machen. Quicksilver lächelte.
„Böser Andre.
Kein Nachtisch heute.“
Die Menge jauchzte.
Deswegen liebten sie „ihre“ Türsteherin. Sie
lächelte.
Hier gehörte sie hin.
Licht wird Schatten, Schatten
Licht
Die Schemen fließen von der
Leinwand
Und was beschworen ward, ist nun
verschwunden.
Träume ein Leben. Lebe einen
Traum.
Von Gatac
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