Kapitel VII - Roter Regen
Zeit, in solchen Situationen wurde sie zum Luxus. Ein Mann konnte alle Schätze
dieser Welt haben, doch reich war er erst, wenn er Zeit hatte, wenn er nicht
wie jeder normale Mensch Sklave der tickenden Sekunden war, wenn er sich nicht
an die beiden Zeiger halten musste, so wie wir an jenem Tag als wir die Zeit
schwinden sahen, Korn für Korn rieselte sie durch und nichts konnte sie
aufhalten. Wir verschwendeten sie nicht. Fünf Minuten, nachdem Rauls uns
die Nachricht überbracht hatte, schlossen sich die Türen des Salons
und dahinter hielt das dreckige Dutzend schon wieder eine Teambesprechung ab.
Wir konnten nicht mehr, wir sehnten uns nach einen warmen Bett, nach einer
Dusche, die die verkrustete Tarnfarbe vom Gesicht spülte, nach Schlaf für
den vollkommen übermüdeten Körper, doch es musste weitergehen,
in wenigen Stunden schon stand der nächste Kampf auf Leben und Tod aus
und vorher mussten einige Vorbereitungen getroffen werden.
Raul fuhr auf einem Pickup mit einem Megaphon bewaffnet durch die Stadt
um neue Rekruten anzuwerben. Es reichte gerade mal um die Verluste aus den eigenen
Reihen auszugleichen. Die Hälfte von ihnen hatte noch nie eine Waffe in
der Hand, Manuel brachte sie mit einem Crashkurs auf Vordermann, doch es war
uns allen klar, dass sie nur Kanonenfutter waren, dass ihre Familien bald nur
noch ihre Gräber besuchen konnten. Zybell, Carlos und ich evakuierten das
Gebiet, in dem die Kämpfe höchst wahrscheinlich stattfinden würden,
nicht aus Menschenliebe, sondern weil sie nur stören würden, weil
sie vielleicht auf eine der kostbaren Minen treten würden, die den Feind
treffen sollten, weil sie vielleicht eine Kugel abbekamen, die den Feind ausgeschaltet
hätte.
Raul stand auf der Mitte der Casa de la Libertas, dem Zentrum von Puerto
Cabezas und betrachtete die Häuserschluchten um den großen Platz
genau. Viele Deckungsmöglichkeiten in den Häusern, so gut wie keine
hier unten. Durch ein Fernglas beobachtete er, wie Will auf dem Dach Stellung
bezog. Als er nach Osten blickte, zu dem Gebäude auf dem Isaac lag, wurde
er durch die aufgehende Morgensonne geblendet. Wieder blickte er auf die Uhr,
es war 7.00 Uhr, die Zeit rannte uns davon, doch Raul war zufrieden, wir kamen
gut voran. Das erste Haus war komplett geräumt. Raul wies einige der Rebellen
an, wo sie dort Stellung zu beziehen haben. Die meisten hatten inzwischen Sturmgewehre,
man konnte viele Waffenbestände der Sandinos retten. "Ja, hier könnte
es klappen", dachte sich Raul als er sich noch mal umguckte, das Rattern
der Waffen lag schon wieder in seinen Ohren. Vorausgesetzt man könnte die
Sandinos hierher locken. Doch er war guter Dinge, als er Bulldog dabei beobachtete,
wie er die Straßen verminte, man fuhr über den Casa de la Libertas
um zum alten Industriegebiet zu fahren, es gab auch andere Wege, doch man würde
sie nicht benutzen, wenn man keinen Verdacht schöpfte.
Futschi verbrachte den halben Tag unter dem Auto, das wir beschlagnahmt
hatten um das immer noch brennende Wrack unseres ehemaligen Jeeps zu ersetzen.
Es war wie beim A-Team, Futschi schweißte Metallplatten an und unter das
Auto um es schuss- und minensicher zu machen. Letztlich brachte er noch das
Ersatzmaschinengewehr auf einer drehbaren Vorrichtung an.
Gegen zwölf bezog ich meine Position im dritten Stock des Mietshauses
an der Casa de la Libertas 12. Die Wohnung war stilvoll eingerichtet, die Familie,
die hier wohnte, war nicht reich, nagte aber auch nicht am Hungertuch. Und während
die Eltern und ihre Kinder in den nördlichen Gebieten der Stadt um ihr
kleine Existenz fürchteten, machte ich es mir in ihren Betten bequem. Die
Vorbereitungen, die in dieser kurzen Zeit getroffen werden konnten, waren erledigt,
der Gegner noch nicht gesichtet. Ich stellte mein M-16 neben das Bett und legte
mich in voller Montur in das Selbe. Das Funkgerät war auf laut gestellt
und während draußen die letzten Schüsse des Milizentrainings
verstummten, fiel mein geschundener Körper schon in einen tiefen Schlaf.
Das gewaltige Donnern weckte mich noch bevor das Funkgerät sich meldete.
Draußen war gerade Apokalypse, Wetterexperten würden es wahrscheinlich
nur ein Kollision zweier Wärmeschichten nennen, doch für mich es war
mehr als nur ein Gewitter, es war ein Unwetter. Ich zog meine Regenjacke über
und trat auf den Balkon. Die schweren Tropfen trommelten im Stakkato auf meinen
Kopf, die Sichtweite war auf 200 Meter gesunken. Die Scharfschützen hatten
es sich unter grauen Tarnnetzen gemütlich gemacht. Ein Blick auf die Uhr
zeigte 15:00, draußen war es für diese Tageszeit viel zu dunkel.
Das Funkgerät kreischte auf. "Feindkontakt."
Es waren vier grüne LKW, Tatras, die sich durch die scheinbar normale
Stadt quälten. Die Scheibenwischer rasten von einer Seite zur anderen,
doch es war ein Sisyphosarbeit, kaum waren sie auf der einen Seite angelangt,
war die andere schon wieder von Regentropfen übersät. Die gewaltigen
Reifen spritzen das Fahrbahnwasser bis zu drei Meter weit, unermüdlich
lief das Wasser von der Motorhaube auf die Straße, wo es mit dem restlichen
einen künstlichen Rinnsaal bildete. Im hellen Licht der Scheinwerfer sahen
die Millionen von Wassertropfen fast wie Schnee aus. Durch mein Ohr hörte
ich wie weit sie gekommen waren. Fast unmerklich setzte sich hinter die Kolonne
ein Jeep. Für die Tatras war es bei diesen Sichtverhältnissen unmöglich
die Panzerung des Jeeps und damit die Gefahr zu erkennen, die von ihm ausging.
"500 Meter vor Treffpunkt", hörte ich eine Stimme in meinem
Ohr. Das M16 wurde entsichert, angelegt, Zielrichtung Casa de la Libertas. Der
Hebel stand auf Vollautomatik, drei Magazine standen direkt neben mir. Der Regen
kühlte einen aus, die Hände waren in den Handschuhen schon ganz nass,
doch das zählte jetzt alles nichts, man vergas es, für eine Weile,
im Kampf um Leben und Tot gab es Wichtigeres. Wieder meldeten sich Stimmen in
meinem Ohr. "Achtung, sie drehen ab, nehmen die Westroute." Verdammter
Mist.
Der Konvoi drehte nach rechts ab, in Richtung Westen. Monoton fuhren sie
weiter Richtung Stadtrand, scheinbar ziellos, ehe sie in einer scharfen Rechtskurve
in das alte Industrieviertel einbogen. Sie fuhren die selbe Route wie wir gestern
Abend. Kurz bevor der Fuhrpark in Sicht kam, verbreiterte sich die Fahrbahn,
die Tatras fuhren neben -und nacheinander. Die ersten beiden wurden auseinadergerissen,
das Benzin entzündete sich, ließ von den Wagen nur noch Einzelteile
nicht größer als zehn Zentimeter übrig. Bulldogs Minen waren
äußerst wirksam. Die beiden Hinteren drehten gerade so vor der Feuerwand
ab, standen nun quer zur Fahrbahn und versperrten so den Weg für den Jeep,
der sich nun ebenfalls mit quietschenden Reifen seitlich positionierte. Zwei
Knöpfe wurden gedrückt, die seitlichen Panzerungen des Jeeps wurden
nach unten gerissen. Aus der einen Seite zischte eine Rakete, die auch den dritten
Tatra zerstörte, aus der anderen ertönte das unermüdliche Rattern
eines MGs, das die Plane des letzten übrig gebliebenen Truppentransporters
in Fetzten riss. Aber das Feuer des MGs blieb nicht nur auf die Plane ausgerichtet,
anschließend konzentrierte es sich auf den Motor und den darunter liegenden
Tank. Es dauerte hundert Schuss bis auch der letzte Tatra explodierte. Es war
perfekt gelaufen, vier Truppentransporten und ihre Insassen waren in kürzester
Zeit und ohne eigene Verlust zerstört worden. Eine gewaltige Rauchsäule,
die trotz des Unwetters noch meilenweit zu sehen war, stieg auf, die Panzerungen
des Jeeps wurden hochgefahren. Vladimir und Bulldog stiegen aus um eventuellen
Überlebenden den goldenen Schuss zu verpassen. Doch sie erlebten ein Überraschung.
Es gab keine Überlebenden, es gab bis auf die Fahrer nie Menschen in diesen
Transportern. Sie waren leer. In diesem Moment hörte man vom Südrand
Kalashnikovs aufbellen.
Schnell hasteten die beiden Söldner wieder in den Jeep, der es nun
eilig hatte wieder nach Süden zu gekommen. Sie gelangten auf die südliche
Hauptstraße, was sie sahen ließ ihnen den Atem stocken. Eine ganzer
Zug, ungefähr zweihundert Mann, hastete sich gegenseitig Deckung gebend
in Richtung Innenstadt. Doch die Paralyse währte nur kurz. Wieder wurde
die Panzerung, die von mehreren Stahlseiten gehalten wurde, nach unten gefahren
und Vladimir sah, während er die tödlichen Kugeln auf die Gegner schoss,
wie mehrere Körper umfielen. Doch die Gegenwehr ließ nicht lange
auf sich warten und kurz darauf erklang überall das hässliche Geräusch,
wenn Metall auf Metall trifft. Der Fahrer fuhr mit qualmenden Reifen los, die
Panzerung wurde wieder hochgefahren und zurück blieben nur einige heiße
Patronenhülsen, die durch den Regen schnell abkühlten und zu dampfen
begannen, 180 Soldaten und einige leblose Körper, denen der alles durchdringende
Regen nun nichts mehr ausmachte.
"Vladimir, was ist bei euch los?"
"Die LKW waren eine Falle, der gesamte Zug ist im Süden der Stadt."
Stille, unsere schlimmsten Erwatungen wurden erfüllt.
"Wie viel sind es?"
"Schätze noch 170 bis 180."
Wieder Stille in der Leitung. Es war schlimmer als unsere schlimmsten Erwartungen.
Wir hatten mit hundert Mann gerechnet.
"Vladimir, hör mir jetzt genau zu, wir haben nur eine Chance, wenn
wir die Leute in unsere Falle locken. Ihr seid unser Lockvogel." Es war
eine ermunternde Aufgabe.
Wieder setzte sich der Jeep vor die Sandinos und feuerte zischende Salven
über die Köpfe der Gegner. Vladimir traf kaum noch jemanden, dafür
fuhr der Fahrer zu hektisch, dafür waren die Gegner zu gut vorbereitet,
doch das war nicht seine Aufgabe. Bald folgten ihm eine ganze Meute und hielt
den Jeep ständig unter Beschuss. Je stärker er beschossen wurde, desto
mehr erfüllte dieser Trupp seine Aufgabe. Es dauerte nicht lange bis der
Jeep an der Casa de la Libertas gelangt war. Ein letztes Mal öffnete sich
der Jeep und spuckte Blei ehe er unter einem Kugelhagel, der dem Regen in nichts
nachstand über den verminten Platz fuhr. Der Fahrer fuhr über den
Fußgängerweg, hier waren nur Personenminen, die dem Jeep nichts anhaben
konnten. Ein leichtes Ruckeln signalisierte den Insassen, dass sie eben gerade
über etwas gefahren waren, dass ihnen, wenn sie draufgetreten wären,
mindestens die Extremitäten abgerissen hätte.
Eine Minute später erreichten die ersten Soldaten vollkommen außer
Atem den Platz. Sofort wurden die Mündungen auf sie gerichtet. Sie waren
den Untergang geweiht.
"Noch nicht, Angriff auf meinen Befehl. Wartet noch."
Der Anführer des Zuges deutete seinen Männern sich in der Mitte des
Platzes zu sammeln. Nach und nach kamen alle auf diesen zentralen Platz. Es
müssen ungefähr hundert gewesen sein, als einer von ihnen auf eine
Mine trat und ihm die Extremitäten abgerissen wurden.
Verdutzt schaute der Truppenführer hoch, seine Miene zeugte von der Vorahnung.
"Feuer!"
Es war ein Gemetzel. Wir waren auf allen Seiten des Platzes, sie waren in
der Mitte, ohne Deckung. Vielleicht konnten sie sich von drei Seiten schützen,
die Vierte erwischte sie. Viele hatten in ihrer Flucht vor dem Unausweichlichen
nicht die Zeit auf den Boden zu gucken und übersahen die Minen die sie
in hohen Bogen in den Tod beförderte. In diesem Kessel überlebte nicht
einer, nach zwei Minuten stellten wir das Feuer ein. Der Platz der Freiheit
war überfüllt mit Leichen, das Regenwasser hatte sich mit dem Blut
von knapp hundert Mann vermischt und hinterließ eine hellrote milchige
Flüssigkeit. Es herrschte so was wie die Ruhe nach dem Sturm, doch das
Unwetter war noch nicht verzogen und genauso wenig die restlichen Gegner die
nun wild in die Häuser schossen. Es war ihr Glück gewesen, dass einer
von ihnen zu früh auf eine Mine getreten war, sonst wären auch sie
zum Sammelpunkt gegangen wie Rinder bei ihrer Schlachtung. Das wilde Feuern
war Symbol ihrer Führerlosigkeit, wir mussten diese Situation nutzen, doch
konnten es nicht, da wir von dem Feuer unten gehalten wurden. Nur die beiden
Scharfschützen hatten freie Sicht und konnten einige erwischen. Es dauerte
nicht lange bis sich ihr neuer Anführer gefunden hatte.
Wir nutzten die Feuerpause um aus unseren Positionen herunter auf den Platz
zu gelangen. Nun kam auch der Jeep wieder und verschaffte uns mit dem MG die
Rückendeckung, die wir brauchten um uns zu sammeln.
"Wir gehen zentral auf die restlichen Leute rauf, wenn die noch zehn Leute
verlieren, sind sie demoralisiert."
Raul schickte die Contrarebellen in den offenen Kampf, wir, die Söldner,
die viel Geld kosteten, blieben zurück. Wir waren zu wertvoll, die anderen
nicht mehr als Kanonenfutter.
Doch die Sache ging gut, die restlichen Truppen hatten sich schon zuvor aufgeteilt,
es blieben zwanzig zurück, ihrerseits nur Kanonenfutter um den Rückzug
der letzten Sandinisten in diesem Gebiet zu sichern. Die zwanzig dem Tod geweihten
fielen schnell. Aber in ihrem Tot hatten sie ihre Aufgabe erfüllt. Die
letzten sechzig waren verschwunden. Wieder herrschte Stille, eine unerträgliche.
Wir waren vor fünf Tagen aufgebrochen, waren so knapp vor unserem Ziel,
fast zweihundert Leichen pflasterten unseren Weg und nun hatten wir die Initiative
verloren. Raul teilte die Leute ein und ließ alle vier Seiten des Casa
de la Libertas sichern. Wir standen um den Jeep im sintflutartigen Regen und
taten das, was mit das Schlimmste für einen Soldaten war: Warten.
Die Regierungstruppen hatten Einsicht mit uns, schon kurz danach war aus
Westen wieder Feuer zu vernehmen. Es vergangen keine zehn Sekunden ehe der Jeep
sich um die eigene Achse gedreht hatte, zum westlichen Eingang gefahren war
und die ersten Kugeln auf die Aggressoren feuerte. Wir folgten ihm so schnell
wir konnten, erreichten unsere Verteidigungslinie kurze Zeit später, doch
eine Front gab es nicht mehr. Das MG hatte aufgehört zu Feuern, nur noch
einzelne Schüsse durchbrachen den monotonen Regen. Der Feind war noch lange
nicht geschlagen.
"Sie kamen plötzlich, 30, 40 Mann, vielleicht auch 50. Die Hilfe
kam gerade rechtzeitig, lange hätten wir die Stellung nicht mehr halten
können. Wir haben ein paar erwischt, der Jeep auch noch einige, insgesamt
sind es ungefähr 15 Mann, die wir ausschalten konnten. Unsere eigenen Verluste
sind ungefähr gleich groß. Der Feind hat sich in die Häuser
geflüchtet."
Der Offizier des Trupps leistete seinen Bericht ab. Die Nachricht war schlecht,
es ging in den Häuserkampf. Unter gewaltigen Sperrfeuer preschten wir vor,
zu zweit stürmten wir die Häuser. Man hörte kurze Salven von
amerikanischen Waffen. Die Sandinisten hatten durchgängig russische Fabrikate.
Zybell und ich bildeten ein Paar und ehe wir unseren Abschnitt, den wir
säubern mussten, erreicht hatten, mussten wir Nikita und Manuel beim Einstieg
sichern. Es war bitternötig, ein Soldat aus unserem Abschnitt hatte sich
auf den Balkon gestellt und begonnen auf die beiden zu feuern. Kimme und Korn
richteten sich schnell auf die schwarze Silhouette eines Menschen und der Abzug
feuerte drei Kugeln auf ihn. Er sackte zusammen hinterließ einen letzten
Feuerstoß in den schwarzen Himmel. Nun waren Manuel und Nikita in ihrem
Gebäude, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Das Wohnhaus, dass wir von Ungeziefer befreien mussten, war fünfgeschossig.
Wir sahen von unten, dass im obersten Stock der Soldat noch immer, sich windend,
auf dem Balkon lag. Langsam schlichen wir nach oben. Die Wohnung war leicht
auszumachen, sie war die einzige mit offener Tür. Kurz sah man einen Schatten
in der Wohnung huschen, man hört rennende Schritte. Lautlos verschafften
wir uns Eintritt, folgten den Schatten. Er führte uns zu dem Balkon. Er
hatte ein Schubfach aus dem Badschrank herausgerissen in dem Medikamente lagen.
Hektisch suchte er nach Verbandsmaterial für seinen verletzten Soldaten
auf dem Balkon. Alles andere interessierte ihn nicht. Er bemerkte nicht wie
wir beide hinter der Wand standen und das grausame Szenario betrachteten. Er
fand nichts, nichts was seinem Freund das Leben retten konnte. Mit letzter Kraft
zog der Mann, die schwarze Silhouette auf dem Balkons, einen Brief aus seiner
Tasche und übergab ihn seinem Freund. Sein Freund war nun mit dem Rücken
zu uns gerichtet. Es war der richtige Moment.
"Zugriff."
Seine Benommenheit und der Regen dämpften das Knallen der Gewehre,
er bekam gerade noch mit, wie sein Freund, dem er gerade seinen Abschiedsbrief
übergeben hatte, mit Blut im Mund umkippte. Dann sah er mich, wie ich die
Mündung auf ihn richtete und das Letzte was er sah war das Mündungsfeuer
des M-16, das ihn tötete.
"Du hast diesen Brief noch, nicht wahr, Ethan?"
"Ja."
"Zeig ihn mir."
Ich überreichte ihr das verlaufene, blutige Manuskript. Es fiel ihr schwer
es zu lesen, doch es gelang ihr die letzten Worte eines meiner Opfer an seine
Frau zu verlesen.
Liebe Juanita,
wenn du diesen Brief liest, hat mich Gott von dieser Erde genommen. Es tut
mir so unendlich Leid, was ich dir und unserer Tochter angetan habe. Du hattest
mich gewarnt, geh nicht zur Armee, doch du weißt, dass ich nicht anders
konnte. Wir wissen beide, dass es keine andere Möglichkeit gab, das Geld
für Lindas Studium zu besorgen. Sie ist ein sehr intelligentes Mädchen,
eines Tages wird sie studieren können, wird sie die Möglichkeiten
bekommen, die wir nicht hatten, wird sie ein Leben führen können,
frei von Armut. Ich habe ihr alles geopfert und ich hoffe es war nicht zu viel.
Mein Herz blutet, dass ich ihr nicht mehr der Vater sein kann, der ich so gern
gewesen wäre, mein Herz blutet, dass ich dir nicht mehr der Mann sein kann,
der dich so abgöttisch liebt. Ich hoffe, nein ich weiß, dass ihr
auch ohne mich zurechtkommen werdet. Auch wenn ich jetzt von dieser Welt geschieden
bin, so bin ich doch immer bei euch. Ich werde dich beobachten, von einem besseren
Ort, werde Linda aufwachsen sehen und es wird meinem schwerem Herzen die größte
Freude bereiten. Gib Linda einen Kuss von mir.
In Liebe
Pedro
Eine Silhouette, mehr nichts. Mehr war es nicht, als ich abdrückte. Ein
schwarzer Körper an einem schwarzen Tag. Doch er war weit mehr als eine
Silhouette. Ein Mann, der seine Frau liebte, ein Vater, der für das Wohl
seiner Tochter sein Leben riskierte. Wer war ich? Ein Mann, dessen Leben aus
Mord und Totschlag bestand, ein Mensch......hatte ein Mensch nicht Mitgefühl?
Hatte ein Mensch nicht eine Moral? Hatte ich als das nicht vermissen lassen
in meinem Leben? War ich überhaupt ein Mensch? Oder eher eine Bestie?
"Du bist ein Mensch", sagte sie.
"Deine Reaktion zeigt es, dass du einer bist, heute."
"Doch damals?"
Sie wusste keine Antwort auf diese Frage, oder sie verschwieg sie. Ich fuhr
fort.
Die Beiden waren die Letzten der westlichen Front. Raul zählte durch,
es waren dreißig Gegner gewesen. Dann rechnete er. Es fehlten dreißig.
Sie waren im Osten, wie wir durch die Granatexplosionen erfuhren. Die rechte
Seite des Casa de la Libertas stand in Flammen unsere Verteidigung dort fast
schon durchbrochen. Es waren die letzten und die besten Kämpfer, ein letztes
Aufbäumen des schon geschlagen geglaubten Feindes.
Carlos war als Einziger auf dieser Seite zur Sicherung stationiert. Die
Rebellen neben ihm waren keine guten Kämpfer, er war auf sich allein gestellt.
Die Front drohte durchbrochen zu werden. Wir beeilten uns, doch der Platz war
groß.
Carlos wusste genau, dass die Front nicht brechen durfte. Er musste sie
halten, nur ein paar Minuten noch, dann wären die anderen da, dann wäre
der Jeep da. Er war es, der den Hühnerhaufen der Rebellen führte,
der sie organisierte, der zurückschoss. Er hatte einen guten Wurfarm und
verteilte die Granaten weitläufig. Doch es half alles nichts, auf der linken
Seite waren sie trotz seines Einsatzes durchgebrochen.
Er rannte auf sie zu, wich den Kugeln aus, wie nur er es konnte. Es waren
fünf Feinde, die im Nahkampf keine Chance gegen ihn hatten. Er hielt die
Front. Doch der Sechste erwischte ihn. Das heiße Blei erwischte ihn an
seinem Unterschenkel, im Becken und in der Wirbelsäule. Er stürzte.
Keine drei Sekunden später wurde sein Oberkörper zerfetzt. Als wir
ankamen sahen wir nur noch in die leeren Augen von Carlos. Eine Blutlache hatte
sich um ihn ausgebreitet, sein zerstörter Körper lag regungslos im
Regen, die Glieder steif. Regentropfen sammelten sich auf seine Lippe, fielen
zu Boden und vermischten sich mit seinem Blut. Er war ein begnadeter Söldner
mit blitzschnellen Reflexen, doch sie konnten ihn nicht gegen die Übermacht
schützen. Carlos war im Felde gefallen.
Die restlichen Feinde hatten sich nun einen Durchbruch erarbeitet und waren
dabei diesen zu passieren als wir in Sichtweite kamen. Sofort wurde das Feuer
eröffnet. Sekunden später war auch der Jeep soweit und feuerte auf
den Durchgang. Es waren nicht viele, die jetzt noch übrig waren. Sie hatten
uns nicht mehr viel entgegenzusetzen. Die letzten Zehn wurden in fünf Minuten
von uns aufgerieben, zwei ergaben sich. Sie wurden sofort erschossen. Und dann
herrschte nur noch der Regen. Keine Schüsse, keine Explosionen, keine Schreie.
Nur Regen, Donner und Blitz. Wir hatten gewonnen, Puerto Cabezas war nun endgültig
in den Händen der Rebellen, wir hatten unseren Auftrag erfüllt, dabei
mehrere Hundert Feinde eliminiert. Wir hatten mit Cabezas die goldenen Stadt
Nicaraguas eingenommen, hatten uns so Zugang zu den Goldminen und damit neuem
Kapital für die Revolution erlangt. Militärisch gesehen, war der Auftrag,
den wir von Ortega bekommen hatten, perfekt erfüllt worden. Und es war
in gewisser Weise ein Himmelfahrtskommando, doch wir hatten es geschafft. Den
größten Erfolg der Revolution. Ich hatte mir vorher ausgemalt, wie
es wohl sein würde, wenn man einen erfolgreichen Einsatz feiert. Der Alkohol,
die Freundschaften, die Nutten, jubelnde Bürger auf den Straßen,
die einen verehrten, junge Mädchen, die ihren Befreiern über alle
Maßen dankbar waren, Paraden, Lobpreisungen. Wir standen im Regen um Carlos
und schwiegen.
Von Mattscho
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