Teil 7 – Wüstenbluter
„Es
gibt keine Grenze dafür, wie schlimm es noch werden kann.“
Über
einem größtenteils unbedeutenden Landstrich Südafrikas
zogen Wolken auf, verdunkelten den stählernen Himmel, und
bombardierten den gemarterten Sand unter ihnen mit Milliarden von
Wassertropfen. Dieser Regenguss erreichte auch die Ausgrabungsstätte,
und der Strom von Wasser prasselte im Besonderen auf einen Berg von
Leichen herab, wobei das angetrocknete Blut der unzähligen
Wunden wieder verflüssigt wurde. Diese bizarre Mixtur saugte
sich nun durch den Hügel von Körperteilen, erreichte
schließlich den Boden und färbte den Sand in ein
unappetitliches Rot. Allerdings zwängte sich der Strom auch in
das Innere des Berges, durchweichte Klamotten und sickerte in
Körperöffnungen – natürliche und unnatürliche
-, und somit auch in den halboffenen Mund eines weiblichen Körpers.
Der metallene Geschmack auf der Zunge dieser Person löste
erstaunlicherweise eine Reaktion aus; der Mund schloss sich und
spuckte die Brühe auf eine benachbarte Leiche. Die Person regte
sich, fand nur Dunkelheit, roch aber sofort den Geruch der Verwesung
um sich. Durch das Tal hallte ein stark gedämpfter Aufschrei.
Sharon
war wieder aufgewacht.
Unter
einiger Anstrengung wühlte sich die Kriegerin durch den Haufen
nach oben, was angesichts der Menge und Masse der Leichen über
ihr kein besonders leichtes Unterfangen darstellte. Nach einigen
Minuten reckte sich ihre rechte Hand dem verdeckten Himmel entgegen,
und eine weitere Minute später war sie vollständig befreit,
stand mit schlotternden Beinen auf dem Berg von Toten, und beäugte
die Umgebung. Ihre Kleidung war mit Dutzenden von Löchern
gespickt und hatte sich fast überall mit stinkendem,
schimmelndem Blut voll gesaugt. Sie selbst sah auch nicht gerade
besser aus; ihre Haare klebten an ihrem verdorrten Schädel, und
an den freigelegten Stellen ihres Körpers konnte sie eine
Vielzahl frischer Narben ausmachen. Ihr Blick schweifte über die
Landschaft, und sie fand ihr Sturmgewehr einige Meter weiter, verweht
vom Sand. Mit einem schnellen Satz wuchtete sie sich von dem Hügel,
landete auf dem Boden, und griff nach ihrer verstreuten Ausrüstung.
Sie fand ihre Schachtel Zigaretten begraben unter dem abgetrennten
Bein eines Soldaten (oder zumindest eines Tarnkleidungsträgers),
zog sich eine Kippe aus der Packung und tastete in ihrer Manteltasche
nach einem Feuerzeug. Mit Mangel an Erfolg gestraft durchsuchte sie
die nähere Umgebung, fand ein paar wegführende
Reifenspuren, und kam zu dem Schluss, dass jemand ihr Feuerzeug
geklaut hatte. Mit einem Achselzucken griff Sharon nach dem im Boden
steckenden Kampfmesser neben ihr und schlenderte zur
Ausgrabungsstelle. In der Grube fand sie einen weiteren Haufen von
Leichen, und mit kaum verhülltem Ärger machte sie sich
daran, die Körper zur Seite zu räumen. Nach einer halben
Stunde schwerer Arbeit kam sie zu dem Schluss, dass das Objekt ihrer
Begierde – das Siegel – auf irgendeine rätselhafte
Weise entfernt worden war. Vermutlich, so dachte sie sich, von
selbigen Idioten, die ein ganzes Forschungscamp ausgelöscht
hatten und von denen einer jetzt ihr Feuerzeug hatte. Mit einem
weiteren Achselzucken griff sie in eine andere Tasche, holte eine
Packung Streichhölzer heraus und befreite den letzten intakten
Holzstab aus seinem Pappgefängnis. Das Hölzchen zündete
beim ersten Versuch, und mit einem dem einzigen guten Erlebnis dieses
Tages geltenden Lächeln führte Sharon die Flamme in die
Nähe der Zigarette. Dann jedoch fiel ein einzelner Wassertropfen
des nachlassenden Regens auf das Feuer, und innerhalb des Bruchteils
einer Sekunde war das Streichholz nicht mehr zu gebrauchen. Mit einem
verwunderten Gesichtsausdruck starrte sie auf das gelöschte
Hölzchen, dann schnippte sie es zu Boden und spuckte die
jungfräuliche Zigarette auf das nahe gelegene Resultat ihrer
Arbeit.
Durch
einen kehligen Kriegsschrei artikulierte sie ihre Unzufriedenheit mit
der Gesamtsituation.
Der
Regen verwischte die Spuren, denen sie folgte, aber es war ihr egal;
sie sah die Spur des Siegels vor sich, klar wie das Kerzenlicht einer
Nacht ohne Sterne. Der Motor ihres Fahrzeuges protestierte lautstark
gegen ihren Fahrstil, aber sie ignorierte die Maschine unter sich.
Sie war irrelevant; wenn sie aufhörte, zu fahren, würde sie
den Rest des Weges laufen. Ab und zu klemmte sie das Lenkrad auf
einer langen Gerade fest und beäugte ihren rechten Arm, sah den
Wunden bei ihrer Heilung zu, und fragte sich, wann der Tag kommen
würde, an dem sie nicht mehr aufstehen würde.
Außer
diesen Momenten der stillen Introspektive blieben die Stunden leer
und ereignislos, nur erfüllt von dem Dröhnen der Kolben,
getrieben von einem ewigen Gedanken.
Im
Licht der Scheinwerfer zeigte sich eine Art Schranke, umringt von
Soldaten. Sharon evaluierte ihre Möglichkeiten, aber
letztendlich fiel die Entscheidung auf Untätigkeit – was
unter der Bedingung eines weit nach unten gedrückten Gaspedals
auf eine Variante des alten „Angsthase“-Spielchens
hinauslief. Dass dabei die Schranke nicht gewinnen konnte, stand von
Anfang an außer Frage, aber der schwere Geländewagen ließ
nicht von seinem Ziel ab, und schließlich durchbrach das
schwarze Monster die Straßenblockierung mit einem
metaphorischen Schulterzucken, zwar verfolgt von den Salven einiger
wütender Sturmgewehre, aber bereits zu weit gefahren, um sich
jetzt von ein paar kleinen Metallstücken aufhalten zu lassen.
Einige Projektile dezimierten die verfügbaren Reifen, aber die
Massenträgheit ließ nicht von ihrem neuen Lieblingskind ab
und trieb das Wrack weiter in das Sperrgebiet trotz Mangels eines
ersichtlichen motivatorischen Systems.
Schwer
bepackt mit allem, was sie greifen konnte, wuchtete sich Sharon durch
das Sonnendach nach draußen, während ihr
Fortbewegungsmittel den Weg allen Treibstoffes in einer durchaus Neid
erregenden Kollision und Explosion ging.
Sie
eröffnete das Feuer, bevor sie richtig gelandet war, und ihr
teutonischer Witwenmacher pflanzte ein erratisches Muster von
Einschusslöchern durch die leichten Kevlarwesten ihrer
Antagonisten. Das Gewehr spuckte weiter Blei, während sie sich
auf den Weg zum nächsten Gebäude schleifte. Nach dem
Verschwinden hinter der Deckung einer Stahlbetonmauer und dem Wechsel
des Magazins wurden ihre Salven kontrollierter, kürzer und
präziser, was die ohnehin schon bemerkenswerte Verlustrate der
gegnerischen Mannschaft in die Gefilde des durch und durch
unwahrscheinlichen steigerte. Auf dem Platz vor ihr bildete sich
langsam ein Kreisbogen von – den Appetit zügelnd
zugerichteten – Leichen, womit wir wieder beim Thema Gemetzel
wären. Obwohl Sharon keine bewusste Erinnerung an die Schlacht
vom Vortag hatte, kam ihr diese Anordnung von toten Menschen bekannt
vor, aber da sie nicht in der Stimmung für eine sentimentale
Retrospektive ihrer Kriegserlebnisse war, wurde der Gedanke
schleunigst wieder auf Talfahrt geschickt. Schließlich musste
sie aber einsehen, dass sie ihre nominale Feuerrate bald nicht mehr
durch Munitionsnachschub versorgen konnte, was ihr glücklicherweise
dadurch verdeutlicht wurde, dass ihr G36 aufhörte, Feuer zu
spucken. Kommentarlos lies sie das Sturmgewehr fallen und zog ihren
Colt aus dem Mantel. Weiterhin wortlos griff sie nach ihrem Messer,
ritzte eine neue Wunde in ihren Arm, und ließ ihr Blut in die
Kammer der Pistole tropfen, bevor sie mit einer schnellen
Handbewegung die Waffe durchlud und sich wieder an ihrer persönlichen
kleinen Schlacht beteiligte.
Sechs
Gegner. Sechs Schuss. Sechs Tote.
In
weiter Entfernung sah sie einen weiteren Trupp von Soldaten anrücken.
Fünf Gegner. Eine Granate. Vier Tote. Ein Schuss. Mit einem
kritischen Auge beäugte sie ihre Arbeit, lud ihren Colt nach,
und bewegte sich auf die nächste Tür zu. In der Dunkelheit
war zwar nicht viel zu erkennen, aber das Schloss gab nach ein paar
Generalschlüsseln Kaliber 45 auf, ihren Weg frei, und sie dem
nächsten Gegner frei. Vor ihr fand sie einen wahren Riesen,
gekleidet in einem schwarzen Overall, fies grinsend, übel
riechend, und bewaffnet mit einer Katana. Sie hob den Colt und ihre
rechte Augenbraue.
„Ach,
*bitte*. Ist das alles?“
Ihr
Gegner antwortete, indem er sich ihr entgegen warf. Sie eröffnete
das Feuer auf ihn, aber anscheinend reichte sein nahezu lachhaft
wirkendes Rumgewirbel mit der Klinge, die Projektile von ihm
abzulenken. Mit einem gewaltigen Streich erwischte er ihre Waffe und
trennte den vorderen Teil der Pistole ab, während Sharon ihre
Hand zurückzog und ihr Messer gerade noch rechtzeitig nach oben
brachte, um seinen zweiten Angriff zu parieren. Der Colt in ihrer
anderen Hand fiel auseinander, und sie fühlte eine neue Wunde an
ihrer Hand, ein oberflächlicher Schnitt. Eine Herausforderung.
Der Schwertkämpfer funkelte sie mit seinen gelblichen Augen an.
„Noch
lange nicht!“
Mit
zwei weiteren Streichen spaltete er die Klinge ihres Messers –
und das auch noch längs – sowie einen Teil ihrer Frisur,
der nun lautlos als Haarballen auf dem Boden landete. Während er
sein Schwert wieder etwas in seiner Hand wirbelte, reagierte sie,
indem sie ihre Hände hob, anscheinend zu einer Art Gebet.
Allerdings trennte sie ihre Finger wieder, und die Hände stoben
auseinander, fast so, als wolle sie sich ergeben. Ihr
Gesichtsausdruck schien hingegen mit dieser Geste nicht ganz im
Einklang zu stehen.
„Nicht
schlecht, Bubi, aber schaffst du es auch beim dritten Angriff?“
Ihre
Antwort erhielt sie in Form eines weiteren Streiches, den er von
einer hohen Haltung vertikal nach unten führte, anscheinend
durch ihre getrennten Hände hindurch. Allerdings kam die Klinge
nicht dort an, wo sie schneiden sollte; Sharons Hände
schmetterten aneinander vorbei, trafen beide die Katana mit ihren
Handflächen, und das rasiermesserscharfe Schwert musste sich nun
damit abfinden, dass seine Klinge sich rapide in mehrere Bruchstücke
zerteilte. Der Schwertkämpfer heilt verdutzt inne, bis ihm seine
Opponentin einen Nasenbeinbrechenden Tritt in sein Gesicht versetzte,
was ihn mit großer Eile auf den Boden der Tatsachen
transportierte. Zufrieden mit ihrer Arbeit griff sie sich ein Stück
der Schwertklinge und rammte es dem liegenden Körper in die
Brust. Durch das Dahinscheiden der Wache erheitert, sah sie sich nach
ihren zerschmetterten Waffen um, schüttelte ihren Kopf und zog
ihre verkürzte Schrotflinte aus ihrem anscheinend endlosen
Mantel.
„Arschloch.“
Betrachten
wir nun die unerträgliche Polarisierung allen Strebens und ihre
Auswirkungen auf das vorliegende Geschehen. In den nächsten
Minuten regte sich nichts, was der Rede (oder eine Kugel) wert
gewesen wäre, und allmählich gelangte Sharon zu der
Überzeugung, dass sie entweder bereits den gesamten Widerstand
eliminiert hatte (wobei ihr dieser Gedanke sauer aufstieß, da
sie nach eigenem Empfinden sich gerade erst aufgewärmt hatte),
oder dass sie die falschen Leute massakriert hatte, was sie noch mehr
aufregte aufgrund des Verlusts an Ausrüstung und Zeit, ganz zu
Schweigen von Nerven. Glücklicherweise (relativ zu ihrer
Besorgnis, nicht zu ihrer eigentlichen Lage) eröffnete ihr die
nächste Tür den Wiedereintritt in das Stakkato von
Teflon-Beschichteten Projektilen, die sich redliche Mühe gaben,
ihre Silhouette in die Wand hinter ihr einzustampfen. Mit
entsprechend geschulter Agilität warf sie sich hinter die
nächste Deckung und wiederholte ihren ersten Eindruck des Raumes
in Zeitlupe vor ihrem geistigen Auge. Sie erinnerte sich an ein
halbes Dutzend Männer mit Kevlarwesten und den anscheinend
omnipräsenten Heckler & Koch MP5 im Anschlag. Mit
hektischer Betriebsamkeit repetierte sie die Schrotpatronen aus ihrer
Flinte und ließ sie klingelnd auf den kalten Betonboden fallen;
aus ihrem Mantel fischte sie eine staubige Schachtel und versicherte
sich anhand des Etiketts, dass sie die richtige Ausrüstung in
den Händen hielt.
Auf
der Schachtel stand „Drachenatem“. Mit einem bösen
Grinsen lud sie die grün markierten Patronen in ihre Flinte und
entsicherte die Waffe. Ohne Sichtkontrolle zielte sie um die Ecke des
Deckung spendenden Schreibtisches und feuerte die Waffe ab. Sofort
entlud sich die hoch entflammbare Zuladung der Hülse in einen
heißen Flammenstrahl; Sharon schwenkte die Waffe herum, um
möglichst viel Volumen abzudecken, dann zog sie die Flinte mit
ihrer verbrauchten Patrone zurück und repetierte. Die
ausgeworfene Hülse klingelte kaum hörbar, rollte auf einen
Papierstapel zu und entzündete diesen ohne großes
Vorspiel. Um sie herum verstärkte sich das Sperrfeuer ihrer
anscheinend unbeirrten Feinde; dann bemerkte sie, wie das
Feuervolumen wieder abnahm, während sich einzelne,
Schallgedämpfte Schüsse zu der akustischen Kollage
hinzugesellten. Schließlich kehrte Ruhe ein, paradoxerweise
Unruhe bei Sharon hervorrufend, und verlockte sie dazu, sich von dem
inzwischen verschrotteten Möbelstück zu lösen. In
aufrechter Haltung bemerkte sie einige wesentliche Details, die sich
an der Raumkomposition verändert hatten. Zum einen sah sie die
Auswirkungen ihres Spiels mit dem Feuer in Form eines brennenden
Papierstapels und einer Leiche mit einigen Brandwunden. Ebenfalls
fiel ihr auf, dass sämtliche feindlich gesinnten Personen nun
ein drittes Auge schmückte, während sie in unbeweglicher
Fötalhaltung den Verlust ihres Blutes observierten.
Am
auffälligsten war jedoch der Anzugträger in der Mitte des
Raumes, der eine schallgedämpfte Walther P8 in der rechten Hand
hielt und sie mit einem neutralen Gesichtsausdruck bedachte. Sie
blickte ihn gleichfalls verschlossen an, bemüht, zu erklären,
warum ihr sein Gesicht bekannt vorkam. Schließlich gab sie auf
und ging zur verbalen Kontaktaufnahme über.
„Wer
sind sie?“
Der
Mann lächelte, legte seinen linken Arm vor die Brust und
verbeugte sich geschnörkelt.
„Thomas
Simmons, zu ihren Diensten.“
In
Sharons Gehirn klickte eine ganze Armee von Neuronen im gleichen
Takt, und ein Ausdruck der Erkenntnis huschte über ihre sonst
indifferente Mimik.
„Sie
sind…“
„Genau.“
Er
stellte sich wieder aufrecht hin, wobei er die Waffe sorgfältig
unter seinem Sakko verstaute und dann einen kurzen Blick auf seine
Arbeit warf.
„Marks
Vater. Was von ihm übrig ist, zumindest.“
Von Gatac
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