Teil 8 – Das retardierende Moment
„Beginnen
wir mit der Annahme, dass ich nicht verrückt bin...“
Chrome
hasste den Dschungel.
Aus
ihrer Zeit in Europa kannte sie keinen so dichten und lebendigen
Wald, und in gewisser Weise war es auch Ehrfurcht gebietend, aber
andererseits auch irgendwie zu pulsierend, zu heiß, zu atmend.
Ihre natürliche Paranoia bewegte sich arg an der Grenze; ständig
angespannt lauschte sie dem ewigen Rascheln, frustriert von dem
Mangel an Sicht zu den Geräuschquellen. Natürlich hatte sie
als innerliches Wesen des Mittelalters eine gewisse Affinität
für Mischwälder, aber zu diesen Bäumen fand sie keinen
Draht, und sie fühlte sich nutzlos trotz ihres eigentlich
reichhaltigen Wissens um das Überleben in freier Natur.
Am
meisten ärgerte sie, dass es Mark nichts auszumachen schien.
An
den Weg zu ihrem jetzigen Standort erinnerte sie sich nur
fragmentarisch. Da war ein nächtliches Landen an der Küste,
seltsam verzerrt durch das, was sie jetzt als fortschreitende
Trennung ihrer beiden Persönlichkeiten bezeichnen würde.
Die Fahrt hierher in einem schrottreifen alten VW Käfer,
schillernd durch den übermalten Rost und die
verschiedenfarbigen, teils selbstgebauten Ersatzstücke der
Außenverkleidung, sowie der süßliche Geruch des aus
Zuckerrohr gewonnenen Alkohol-Basierenden Treibstoffes. Dann das
seltsam melodische Gezirpe aus dem Radio, irgendein religiös
orientierter Sender, der wohl auf Portugiesisch übertrug, wenn
das defekte Radio ihn überhaupt richtig empfangen konnte.
Gesichter von Menschen, die fremd aussahen, richtig fremd, nicht
einfach nur südländisch oder nordisch. Gesichter, die sie
anstarrten als Fremde, aber trotzdem nichts unternahmen. Der kleine
Stand in irgendeinem Elendsviertel, bei dem Mark neue Vorräte
erstanden hatte, die er jetzt in einem alten, aber robusten
Leinenrucksack mit sich herum schleppte. Sie hingegen trug die
Waffentasche über ihrer linken Schulter, und einmal mehr wollte
sie Mark darum bitten, eine kurze Pause einzulegen, um die Last
abzusetzen. Eigentlich wollte sie ihn noch fragen, warum er als
ausgebildeter Fernkämpfer nicht die Waffen trug, aber dann hörte
sie das leise Schnaufen aus seinem Mund und dachte sich, dass die
Vorräte auch nicht viel leichter sein konnten.
Das
alles wurde über den Haufen geschmissen, als Marks Handy
klingelte.
Fluchend
ließ er den Rucksack fallen und griff in die Seitentasche
dessen, aus der er mit großer Hast das kleine Bündel
kräftig geschundener Elektronik befreite. Chrome tat es ihm
gleich, warf die Tragetasche auf den Boden und ging schneller mit der
darin befindlichen CAWS in Anschlag, als es für einen normalen
Menschen möglich gewesen wäre. Sie beobachtete die
Umgebung, während Mark sich gepflegt auf den Boden schmiss und
schließlich mit offensichtlicher Besorgnis um die
Lärmentwicklung das Gespräch annahm.
„Was?“
Von
der anderen Seite drang das Geräusch von Waffenfeuer;
automatische Waffen, vermutlich Kaliber 5,56mm NATO, fegten mit
Salven durch die Gegend, während ab und zu eine kleinere Waffe –
Azuriels CZ75, aber da war sich Mark nicht ganz sicher –
antwortete. Schließlich drang ein einzelner Gesprächsfetzen
durch die Verbindung.
„Das
Siegel…ist verloren!“
Mit
dem Geräusch eines einzelnen Schusses brach die Verbindung ab.
Mark
starrte ungläubig auf das Mobiltelefon, verpackte es schließlich
wieder und öffnete das Hauptfach des Rucksacks, aus dem er zwei
stabile Parkas mit Tarndruck entfernte. Einen warf er Chrome zu, die
beim Fangen beinahe die Waffe in den Dreck geschmissen hätte,
den anderen legte er selber an, während er nach Tarnfarbe für
seine offenen Hautpartien suchte. Chrome tat es ihm gleich, nachdem
sie die schwere Feuerwaffe sicher in die Tasche gelegt hatte; dann
sah sie Mark fragend an.
„Was
ist denn jetzt los?“
Das
ferne Dröhnen von Helikoptern beantwortete ihre Frage zwar nicht
vollständig, aber ausreichend.
Von
da an war die Erschöpfung vergessen; sie rannten durch den Wald,
über Stock, Stein und die gelegentliche verdutzte Schlange –
wobei es Mark sogar schaffte, ein kleines Säugetier so zu
überraschen, dass er dem scheuen Wesen auf den kleinen Schwanz
trat und ohne die geringste Reue weiterlief – immer in entgegen
gesetzter Richtung von dem Rotorengeräusch. Dieses jedoch wurde
beständig lauter, und als sie schließlich eine Lichtung
erreichten, sahen sie den großen, nicht markierten Hubschrauber
des Typs Chinook über sich kreisen. Der Rest lief wortlos ab;
Chrome warf Mark die CAWS zu und nahm für sich selbst die Desert
Eagle aus der Tasche, welche sie sofort langsam, aber korrekt fertig
lud und entsicherte. Mark war etwas schneller gewesen, und zielte
bereits mit der automatischen Flinte auf eine – hoffentlich –
verwundbare Stelle des Luftfahrzeugs.
„Nicht
schießen!“
Der
Klang von Sharons Stimme brachte Mark so heftig aus dem Konzept, dass
er beim Bemerken der sie umzingelnden Gruppe von Waffenträgern
ernsthaft überrascht aussah und die Waffe sofort fallen ließ.
Während
der Paladin immer noch leicht verwirrt aus der Wäsche guckte,
entspannte sich die Situation bereits wieder etwas; die Bewacher
ließen ihre Sturmgewehre (welche Chrome als die von Mark
erwähnten „Ähm-16“ identifizierte, und damit
gar nicht mal so weit vom Ziel entfernt war) aus dem Anschlag in die
Schulter sinken, machten aber keine Anstalten, den Weg freizugeben
oder die beiden Flüchtigen aus den Augen zu lassen. Während
Mark noch angestrengt überlegte, ob er diese Uniformen bereits
einmal gesehen hatte, rief ihn eine zweite Stimme, diesmal männlich.
„Mr.
Simmons.“
Beim
Umdrehen wurde Mark sofort in einen unangenehmen Zwiespalt gedrückt.
Einerseits sah er nun Sharon, die mit leicht zerfetzter Kleidung auf
der Kühlerhaube eines Jeeps saß, an einer filterlosen
Zigarette zog und ihn mit ihren Augen auch durch die Sonnenbrille
hindurch anstrahlte. Andererseits stand neben ihr der Besitzer der
zweiten Stimme, ein drahtiger Mann gediegenen Alters und vermutlich
südpazifischer Abstammung, der sich in einen
einfallslos-monotonen Anzug gezwängt hatte und seine
ergrauenden, zotteligen Haare mehr schlecht als Recht zu einem
Pferdeschwanz gebunden hatte. Das alles wäre an sich vielleicht
kein Grund zur Sorge gewesen, hätte Mark den Mann nicht –
korrekterweise – als Agenten der AdS identifiziert. Hier
wendeten sich Marks Reflexe gegen ihn; die widersprüchlichen
Eindrücke lähmten ihn, so dass er schließlich erst
bei erneuter Ansprache durch Sharon eine Reaktion zeigte.
„Mark,
was ich dir jetzt sagen werde, wird verrückt klingen.“
Bevor
Mark sich zu einer Antwort durchringen konnte, reagierte Chrome.
„Was
gibt’s da groß zu erzählen? Du hast einen Deal mit
den Flachwichsern gemacht und uns ans Messer geliefert. Was haben sie
dir angeboten? Geld? Freiheit? Einen schnellen und schmerzlosen Tod?“
Das
Lächeln verschwand aus Sharons Gesicht.
„Guck
mal, wer da spricht, Prinzessin Silberlocke. Du kriechst hier mit der
einzigen Hoffnung der Menschheit durchs Dickicht, während ich
nicht nur ein Siegel abräume, sondern auch noch ein wenig
Unterstützung organisiert habe.“
„Unterstützung?“
Endlich
reagierte Mark.
„Unterstützung?“
Sharon
setzte ihr Grinsen wieder auf und zeigte dann mit ihrer kippenfreien
Hand auf den Anzugträger, welcher sich sofort räusperte und
seine Rede begann.
„Nun,
Mr. Simmons, die Armee der Sterblichen hat uns gesandt, aber das
haben sie sich sicher bereits gedacht. Ihre Freundin hat einen
Stützpunkt einer uns feindlich gesinnten Fraktion angegriffen
und dabei das südafrikanische Siegel gesichert. Als wir sie
aufgriffen, erzählte sie uns einige Details über ihre
Person, die uns dazu gebracht haben, unsere Meinung über ihr
Unternehmen – nun ja, neu zu bewerten. Wir halten es für
besser, wenn sie ihren Auftrag unter Aufsicht ausführen, als
wild durch die Weltgeschichte zu flüchten und unsere hoch
qualifizierten Mitarbeiter zu beseitigen. Im Anbetracht der
Wichtigkeit ihrer Mission wurden wir geschickt, um sie zum letzten
Siegel zu eskortieren.“
„Und?“
„Seien
sie versichert, dass wir ihnen jede gewünschte Unterstützung
geben werden, sobald die Sicherung erfolgreich war. Im Falle eines
Fehlschlages fungieren wir als Reinigungstrupp, wenn sie mir soweit
folgen können.“
„Dann
rufen sie besser gleich mal bei ihrem Chef an, denn wenn es bereits
so schief gelaufen ist, wie ich denke, werden wir eine ganze
Reinigungskolonne brauchen.“
In
der einsetzenden Stille war Mark der Einzige, der wirklich den
Anschein der Ruhe wahren konnte.
Das
Donnern der Rotoren zerschnitt die Dämmerung über dem
Regenwald und scheuchte die lokale Fauna aus ihrem normalen
Lebensrhythmus; innerhalb der schwarzen Aluminiumbanane jedoch war
das Pfeifen auf ein zyklisches Pochen gedämpft, und man vertrieb
sich die Zeit damit, entsprechend durch Fußtreten dieses
Geräusch zu verstärken. Innerhalb des Frachtraumes war es
nicht besonders geräumig, und so blieb es das einzige
Zugeständnis an die besonderen Gäste, dass zwischen ihnen
und den Soldaten ein Sitzplatz unbesetzt blieb. Im negativen Fall
hätte es jedoch wohl kaum eine andere Reaktion provoziert; die
Drei waren viel zu sehr in ihr Gespräch vertieft.
„Den
Engel hat es erwischt?“
Mark
blickte zu Sharon, versuchte, in ihren Augen den geringsten Funken
von Anteilnahme zu finden.
„Schade
eigentlich, er konnte gut kämpfen. Mit ihm hätten wir
sicher ein oder zwei Sekunden gewonnen.“
„Du
bist die Expertin. Haben wir eine Chance?“
„Den
finalen Kampf der Sphären aufhalten? Wohl eher nicht. Schon der
Teil des Krieges, der durch ein gebrochenes Siegel dringt, reicht
locker aus, um die Welt zu verwüsten. Und ich komme noch gut
dabei weg, denn meine Essenz wird vermutlich bei der nächsten
Schöpfung wieder verwendet. Vielleicht kommst du auch zurück,
oder ein kleiner Teil von dir. Aber für die Realität, so
wie wir sie kennen – die können wir abhaken. Niemand hat
genügend Macht, den Mist aufzuhalten, es sei denn, einer der
großen Schachspieler mischt sich ein, und das ist ungefähr
so wahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto, wenn du den Tippschein
nicht abgegeben hast.“
„Also
zurücklehnen und die schönen Lichter genießen, hm?“
„Wenn
du willst, gehen wir mit Geschrei und Gezeter unter. Aber untergehen
werden wir.“
Der
Truppführer der AdS winkte Mark zu sich herüber; als der
Paladin aufstand, drückte ihm Sharon den Briefumschlag in die
Hand und warf ihm mit überraschend ehrlichen Augen einen
ernsthaften Blick zu. Mark beäugte das Bündel, löste
sich aus dem Gurtsystem und wankte über den Boden auf den
Anzugträger zu.
„Mr.
Simmons, der Rat hat ihrer Empfehlung zugestimmt. Sämtliche
verfügbaren Kräfte wurden mobilisiert und werden zu den von
ihnen angegebenen Koordinaten verlegt. Wir können ihnen
vermutlich bis zum Zeitpunkt des Übergangs zwei Regimenter
unserer besten Soldaten zur Verfügung stellen. Und auf direkte
Bitte des Vorsitzenden soll ich ihnen mitteilen, dass wir diesmal
einem Wunder durchaus nicht abgeneigt wären.“
„Welche
Waffen führen sie mit?“
„Natürlich
hauptsächlich Sturmgewehre, aber wir setzen vermehrt
Schwerpunktwaffen ein und stellen ihnen zusätzliche
Spezialwaffen zur Verwendung frei. Leider besitzen wir keine
luftverlastbaren Panzerfahrzeuge oder Artillerie, aber wir haben drei
Geschwader Jagdbomber einer nahe gelegenen Basis ständig über
dem Gebiet in Bereitschaft. Wir haben sogar ein paar taktische
Nuklearwaffen im Transit, aber wie sie sich sicher denken können,
sind sie schwer zu beschaffen und transportieren.“
Mark
dankte mit einem Nicken und zog sich dann in eine ruhige Ecke zurück,
wo er den Umschlag öffnete. Der enthaltene Brief strahlte eine
wundersame Aura aus; er erkannte die Handschrift seines Vaters,
obwohl er sie seit Jahren nicht mehr gelesen hatte.
Mark,
wenn
dich dieser Brief erreicht, ist die Situation bereits eskaliert. Dies
mag ein Zufall sein; dass du darin verwickelt bist, ist keiner,
sondern meine alleinige Schuld. Vielleicht hast du es schon geahnt;
du wurdest nicht zufällig gewählt, genau so, wie du nicht
zufällig gestorben bist. Wisse jedoch, dass auch ich in deiner
Lage war vor langer Zeit; der Krieg begann nicht erst mit deiner
Mission, sondern tobt schon lange. Viele sind uns vorausgegangen; wir
alle sind gescheitert. Du bist nicht der alleinige Diener Gottes,
Mark, das ist keiner vor uns. Du bist in gewisser Hinsicht Richter,
und vertrittst die Menschheit. Wenn du sie gut repräsentierst,
kannst du das unmittelbare Unheil verhindern und dabei ein neues
hinter dem Horizont der Zeiten schaffen. So haben es deine Vorgänger
gemacht, auch ich; durch die Zeiten hinweg haben wir die nächste
Generation ausgebildet, immer versucht, ihnen noch mehr beizubringen,
als wir selber wussten. Es war ein Glücksspiel; die Hoffnung,
dass ein besserer Paladin es schaffen könnte, gegen die Angst,
dass einem schlecht vorbereiteten Krieger der Aufschub verweigert
werden könnte. Aber so kann es nicht weitergehen, dass weiß
ich jetzt, und deshalb hoffe ich, dass du es schaffen wirst, diesen
Krieg zu beenden. Egal wie stark du bereits bist, du wirst neue
Kräfte freisetzen – der Schlüssel zum Erfolg ist es,
sie instinktiv zu kontrollieren. Löse dich von den negativen
Dingen, die dich belasten, vertraue deinen Kameraden und deiner
Klinge. Denk daran; du weißt nicht, wie weit du gehen kannst,
wenn du es nicht versuchst, also kämpfe, auch wenn es dir
sinnlos erscheint. Es ist niemals vergebens!
Ich
wünschte, ich könnte dir mehr sage;, dir erzählen, wie
sehr ich dich geliebt habe, mein Sohn, wie es mir ins Herz biss, dich
mein ganzes Leben im Dunkel ob deiner Bestimmung zu lassen. Aber
diese Worte sind wie Wind; egal, wie es ausgeht, ich bin mir sicher,
dass wir uns wieder sehen werden. Kämpfe stolz, mein Sohn.
Du
bist der Verteidiger. Du bist der Paladin.
Thomas
Von Gatac
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