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         Intermezzo - Verdun 1917 
        "Wo Leichen die Straßen pflastern
"
An diesem Tag regnete es.  
Eine einzelne uniformierte Gestalt robbte durch einen behelfsmäßigen 
  Schützengraben, der nicht so tief und breit war wie ein richtiges Exemplar 
  - er bot gerade genug Deckung, damit er hindurch robben konnte, ohne von seinen 
  Feinden gesehen zu werden. Die Brühe um ihn sonderte merkwürdige Gerüche 
  ab, die sich allesamt in seiner Nase vereinigten und ein intensives Gefühl 
  der Übelkeit verursachten. Blut. Schweiß. Urin. Und Reste von Senfgas, 
  die sich beim Sturm seiner Einheit auf diesen Graben hier abgesetzt hatten. 
  Die Stellung hier hielten sie erst seit ein paar Tagen, und so wie es aussah, 
  würden sie sie auch nur ein paar Tage halten können, bis sich der 
  Feind wieder aufraffte sie zurückzuschlagen. Aber er kannte die Leute in 
  seiner Einheit. Sie hatten ihn gesehen, den Reiter, wie er über die Felder 
  streifte und die Länder ausblutete, Frauen und Kinder tödlich verwundete, 
  ohne sie anzurühren, und wie er Familien zerstörte, Fortschritt aufhielt, 
  Moral und Anstand in Raserei und Barbarei wandelte. Sie hatten ihn alle gesehen, 
  und er hatte ihnen die ultimative Grausamkeit angetan, sie leben zu lassen, 
  ihnen vor Augen geführt, wozu Menschen fähig waren. Niemand wollte 
  herausfinden, zu was er wirklich fähig war, aber sie wussten es inzwischen 
  nur zu gut. Sie konnten es niemals mehr vergessen, also sehnten sie das allumfassende 
  Vergessen des Todes herbei. 
Sie würden sterben, um diesen Posten zu halten, aber nicht, weil man ihnen 
  es sowieso befohlen hätte. Wer war unmenschlicher? Die Vorgesetzten, die 
  das Opfer verlangten? Oder die Soldaten, die es ausführten? Er wusste es 
  nicht, und er wollte es nicht wissen, aber er hatte das seltsame Gefühl, 
  dass man es ihm beibringen würde - wieder eine Erinnerung mehr, mit der 
  er nicht leben wollte. Plötzlich hörte er über sich das Pfeifen 
  der schwingenden Sense des Reiters, und in einem Moment von Unachtsamkeit sprang 
  er auf und rannte in Richtung des Schützengrabens. Um ihn herum regnete 
  Artillerie, und er fühlte, wie sich ein Splitter durch seine Kleidung an 
  seinem Rücken vorbei bohrte, aber es war ihm egal. Kugeln umfingen ihn, 
  aber trafen ihn nicht; er war losgelöst von dieser Welt, außer Reichweite 
  ihrer dämonischen Waffen, und so wie er kaum den Boden unter seinen zerrissenen 
  Sohlen fühlte, so sah er auch den apokalyptisch-roten Himmel über 
  sich nicht. Der Regen pochte gegen seinen Schädel, als Kontrast zu den 
  schrecklichen Melodien der Sprengköpfe um ihn herum, und kühlte seinen 
  heißen Atem. Mit einem beherzten Satz warf er sich hinter den schützenden 
  Wall, während die Kugeln - so viele, so unendlich viele herzlose Kugeln 
  - in Zeitlupe seine Silhouette in die Luft stanzten. Endlich war er wieder bei 
  seinen Freunden, aber die Angst, die ihn eben noch beflügelt hatte, lies 
  ihn nun kauern, mit dem Rücken zum Wall, immer bereit für die endgültige 
  Freiheit. Langsam verstummte das Feuer um ihn herum, und die quälende Ruhe 
  eines erneuten Patts umfing ihn. Mit schlotternden Knien drehte er sich zum 
  nächsten Soldaten neben ihn und stotterte ihn an. 
"Wir
wir sind tot. Neuer Sturmangriff. Verstärkung ?" 
  "Erst in einer Stunde." 
  "Zu spät. So lange können wir sie nicht aufhalten." 
  "Was denn ?" 
Er dachte nach. 
"Wenn wir
wenn wir stürmen. Dann denken sie, die Verstärkung 
  ist schon da. Wir ordern einen Mörserangriff auf ihren Graben, dann stürmen 
  wir. Egal ob wir es schaffen oder nicht, der Feind kann erstmal nicht vorrücken. 
  Das reicht, bis unsere Verstärkung eintrifft. Wir müssten sowieso 
  abgelöst werden." 
  "Aber die werden uns umnieten!" 
Er sah seinen Kamerad mit versteinerten Gesichtszügen an. 
"Wir sind bereits tot. Ich sterbe lieber auf meinen Füßen, 
  als dass ich auf meinen Knien lebe. Ich will nicht mehr. Wir alle wollen nicht 
  mehr, das wissen wir. Der Feind will uns töten. Gut, das können wir 
  nicht verhindern. Aber lassen wir ihn dafür bezahlen. Unter meinem Befehl 
  wir dieser Graben nicht fallen!" 
Die anderen nickten ihm zu. Der Funker brabbelte neue Codewörter und Koordinaten 
  in seinen schweren Apparat. Dann warteten sie. 
Schließlich kam das Pfeifen wieder. Aber aus der anderen Richtung. Ihre 
  Artillerie hatte sie gehört. Die Mannschaften wussten, was er vorhatte, 
  und sie salutierten ihm mit allem, was sie hatten. Er sah seine Männer 
  ein letztes Mal an, dann gab er den Befehl. Schreiend stürmten sie über 
  den Wall, feuerten mit ihren Gewehren auf alles, was sich vom Gelände abhob. 
  Die Kugeln sausten durch die Luft, erwischten Einen nach dem Anderen, aber ihn 
  konnten sie nicht mehr erreichen. Im Laufen repetierte er eine verbrauchte Hülse 
  aus der Kammer, zielte kurz, und schoss dann. Ein feindlicher Grenadier fiel 
  rückwärts in seinen Graben, die entsicherte Granate noch in seiner 
  Hand. Eine Explosion erschütterte ihr Ziel, und er sprintete weiter. Er 
  sah Bewegung beim feindlichen MG, aber er war schon zu nahe dran und warf sich 
  gegen den Wall, außerhalb des Feuerwinkels. Aber die Salve galt nicht 
  ihm, und mit Schrecken sah er, wie die Kugeln jene zerfetzten, die er im Sprint 
  abgehängt hatte - und das waren, wie er entsetzt feststellte, alle anderen. 
  Sein Magen krampfte sich vor Wut zusammen, und mit Hast schleuderte er eine 
  Granate über den Wall.  
Die Explosion überhallte alle Schreie. 
Nach einer ungewissen Minute voller Ruhe raffte er sich auf. Seine Ohren klingelten. 
  Seine Augen waren verschwommen vom Schweiß, das Gewehr rutschte in den 
  nassen Händen seines Besitzers, und er kämpfte sich unerträglich 
  langsam über den Wall. Er sah Zerstörung, Tod und Verderben. Aber 
  er freute sich. Er konnte nicht anders. Er lachte, lachte lauter als jemals 
  zuvor, denn er musste die Stille füllen. Er hatte den Feind besiegt. Er 
  war ein Held, und er fühlte sich wie der Achilles des 20. Jahrhunderts. 
  Dann hörte er ein Wimmern neben sich, und mit einem starken Ruck an einer 
  Leiche legte er ein blutiges Bündel Mensch frei. Eine Frau. Er schauderte. 
  Sie war schön, wunderschön, aber er konnte es nicht sehen, denn er 
  sah nur die Uniform des Feindes. Mit seinem von Wahn gezeichneten Lächeln 
  richtete er seine Waffe auf sie, aber dann warf sie sich zur Seite. Er sah die 
  Wunden an ihrem Körper, die Splitter in ihrem Hemd, und das seltsam verfärbte 
  Blut in ihren Mundwinkeln. Seine Hände zitterten, und er kniete sich nieder, 
  um sie genauer zu betrachten. Er sah ihre rechte Hand, immer noch den Abzug 
  des MGs umklammernd, aber nur noch mit einem schrecklich verdrehten Handgelenk 
  an ihren Arm gebunden. Er sah sie, verletzt und verletzlich, sterbend und doch 
  wie ein Engel mit dem dreckigen Haar über ihren geschlossenen Augen. Er 
  beugte sich näher an sie heran, hörte ein Geflüster in einer 
  ihm fremden Sprache, und fühlte, wie ihm eine einzelne Träne über 
  die Wange lief. 
  Er weinte. 
Er weinte um sie, um sich selbst, um seine Freunde, um seine Heimat, um seinen 
  Feind und dessen Heimat, um die Unschuldigen und die Schuldigen, um die Toten 
  und die Lebenden. Er weinte, weil es das letzte war, was er noch tun konnte. 
  Unter Tränen sah er, wie die Frau unter ihm die Augen öffnete und 
  ihn mit einem eisigen Blick fokussierte. Er weinte weiter, erwiderte ihren Blick 
  mit aller Wärme, die er geben konnte, und er phantasierte, wie er ihre 
  Wunden verbinden könnte, wie sie weglaufen könnten, zusammen, weg 
  von diesem Krieg, von diesem Kontinent, von dieser Welt, die sie beide gegeneinander 
  gehetzt hatte. Dann fühlte er ihre Hand an seiner Brust, wie sie nach seinem 
  Hemd griff, die Augen gefüllt mit all den Schmerzen und Schrecken ihrer 
  Reise, und er erkannte, dass ihre Augen seine spiegelten. Ihre Hand wanderte 
  weiter nach oben, strich über seine Wange, und er sah sie lächeln, 
  trotz ihrer Wunden. Um sie herum regnete Feuer vom Himmel, aber es interessierte 
  ihn nicht mehr. Er liebte sie, so wie er sich selbst liebte, nein - mehr noch 
  als sich selbst. Er wollte sie retten. Er wollte sie alle retten. Er dachte, 
  er hätte die Kraft dazu, als er diesem Krieg beitrat. Er lächelte 
  sie an, während sie weiter die Konturen seines Gesichts umfuhr. Schließlich 
  zog sie ihn näher an sich heran, und er küsste sie, fühlte, wie 
  sich sein Blut mit ihrem vermischte. Ihre Hand streichelte sein verklebtes, 
  gebräuntes Haar, wanderte wieder nach unten und umschmiegte seinen Hals, 
  bevor sie ihre Hand wieder wegführte. 
Der Schmerz stieß ihre Lippen auseinander. Er stützte sich über 
  sie, unbeweglich wie eine Statue, und fühlte sein Blut, wie es sein Hemd 
  verunstaltete, wie es aus seiner neuen Wunde floss. Er fühlte die Kälte 
  des Stahls, der nun zwischen seinen Rippen steckte. Er sah wieder in ihre Augen, 
  und der Schrecken war wieder dort, aber - anders. Dieses Feuer - er hatte es 
  gesehen, in den Augen von denen, die starben und nichts bereuten, weil sie nichts 
  gelernt hatten. Er weinte für sie beide, für seinen Körper und 
  ihre Seele, dann ließ er sich auf sie sinken und küsste sie weiter, 
  während sein Leben an dem Messer in seinem Rücken vorbei floss.  
In das Blut seines ehrlichen Todes mischte sich der süße Geschmack 
  ihres stillen Verrates, und sie umarmte ihn innig, erwiderte seine Liebkosungen 
  und verschlang ihm im Kuss, als wolle sie ihn stehlen, ihn korrumpieren und 
  unterwerfen. Sie fühlte die Aufrichtigkeit seiner Zuwendung, und mit Ekel 
  trennte sie sich nun von ihm, im Ärger darum, dass er sie in seiner Treue 
  um ihren Sieg betrogen hatte. Mit schierer Willenskraft schob sie den Soldaten 
  von sich, dann richtete sie sich auf und beäugte die Umgebung. Sie sorgte 
  sich nicht um ihre Wunden. Sie würden heilen. Das taten sie immer. Sie 
  würde weiterkämpfen, irgendwo anders. Sie musste den Krieg nicht suchen, 
  er fand sie, und wie eine jahrelange heiße Affäre umschmiegten sie 
  sich bei jedem Treffen, versuchten zu sehen, wer von ihnen beiden die größere 
  Gräueltat begehen konnte - eine der wenigen Passionen, die in ihren grausam 
  kalkulierenden Gedanken noch Gehalt besaß. Mit einem geschickten Handgriff 
  befreite sie ihr letztes Opfer von einer Schachtel Zigaretten, dann griff sie 
  nach einem Feuerzeug in ihrer Hemdtasche und zündete das kleine Bündel 
  an. Mit einem Zug und einem Lächeln schweifte ihr Blick über die Leichen. 
Wieso endete es immer so? 
 
         
        Von Gatac 
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