Teil 3 - Unverstand im Zauberland
"Steht das nicht irgendwo im Internet?"
Man sollte meinen, dass es Mark nach über zehn Jahren Berufspraxis besser
durchziehen könnte. Er hätte sich wirklich einen besseren Plan ausdenken
können. Er hätte sich zum Beispiel ein Flugzeug mieten können,
um per Fallschirm abzuspringen. Oder er hätte sich durch die Kanalisation
vorarbeiten können. Oder sich als Mitarbeiter mit gefälschten Papieren
ausgeben können.
Stattdessen war er am helllichten Tag anmarschiert und hatte Chrome dabei eine
Pistole an die Schläge gedrückt, als eine Art gespielte Geiselnahme.
Natürlich war er jetzt von Polizisten umzingelt, die auf ihn mit irgendwelchen
fies aussehenden Waffen zielten. Natürlich hatten sich mehrere Dutzend
Scharfschützen auf die anliegenden Häuser verteilt. Hauptsächlich
gab es aber eine ganze Menge Reporter und Gaffer, die anscheinend sehr viel
Interesse an dem Fall hatten. Das erscheint im historischen Kontext verständlich,
bedenkt man, dass wohl noch nie ein weltweit gesuchter Schwerverbrecher damit
gedroht hatte, eine Geisel zu töten, wenn man ihn nicht an ein bestimmtes
Buch ließe. Mark stand der Schweiß im Gesicht - hauptsächlich
wegen der Hitze, wie er standfest behauptete -, und Chrome war es langsam leid,
einen erschreckten Gesichtsausdruck aufzulegen.
Aus dem unheimlichen Gewühl der Reporter und Kameraleute, von denen einige
sogar ihre eigenen Dieselgeneratoren herangeschafft hatten, um beim - sehr wahrscheinlichen
- Versagen der lokalen Sicherungen trotzdem noch live dabei zu sein, erhoben
sich ein paar Stimmen.
"Sind sie Mark Simmons?"
"Was wollen sie?"
"Werden sie sie töten?"
Mark entschied sich, mal etwas an seinem öffentlichen Image zu feilen.
"Sehr geehrte Damen und Herren ! Ich freue mich, dass sie hier und heute
so zahlreich erschienen sind, um meiner kleinen Ansprache zu folgen, also will
ich sie auch nicht unnötig lange in dieser Hitze festhalten. Ich fasse
mich also kurz: Ich werde jetzt in die Bibliothek hinter mir eintreten, und
bitte nur darum, beim Lesen nicht gestört zu werden. Und an die verehrten
Herrschaften mit den Konfettiwerfern: Ich weise sie höflich darauf hin,
dass meine Begleitung hier von mir vergiftet wurde. Sollte sie nicht innerhalb
von zehn Stunden mit dem Gegenmittel behandelt werden - nun ja, ich denke das
haben sie oft genug gehört, also will ich ihnen die Details ersparen. Es
ist wohl unnötig zu erwähnen, dass bei einer Abweichung von meinem
Plan der Standort besagter Chemikalie für immer geheim bleiben wird. Aber
da ich ja meine lieben kostümierten Freunde kenne, habe ich mich noch zusätzlich
etwas abgesichert. In drei Häusern hier in Rom ist Sprengstoff versteckt,
der ebenfalls in zehn Stunden zünden wird. Sollten sie meinen Wünschen
folgen, werde ich wohl in einem Anfall von Dankbarkeit preisgeben, wo sie die
lieben Leute mit der Drahtschere hinschicken müssen."
Ein Polizist sah sich genötigt, diesem eloquenten Vortrag eine Anmerkung
hinzuzufügen.
"Geben sie auf, Simmons! Ganz Rom ist umstellt!"
"Mag ja sein, aber sie wollen doch nicht den Tod dieser unschuldigen Dame
verschulden, oder? Je länger sie mich aufhalten, desto geringer wird ihre
Chance. Mal ganz zu schweigen von den armen unwissenden Opfern, die heute Abend
einen schönen Freiflug über ihre Grundstücke kriegen - Blutflecken
auf dem Rasen senken den Wiederverkaufswert jedes Grundstücks."
Man überlegte für lange Minuten, wie man Mark zu Leibe rücken
könnte, aber man fand keine rechte Methode.
"Hören sie, Simmons. Wir machen ihnen ein Angebot. Wir lassen sie
jetzt rein, sie lesen ihr Büchlein. Wir eskortieren sie raus aus der Stadt
zum - Entschuldigung, wo wollten sie noch mal hin?"
"Ein kleiner Flughafen mit Charterflugzeugen wäre nicht schlecht.
Lassen sie doch schon einmal einen Learjet für mich auftanken."
"Und dann geben sie ihr das Gegenmittel und lassen sie gehen. Wir begleiten
sie in Sicherheit, sie nehmen das Flugzeug. Einverstanden ?"
Normalerweise hätte das bedeutet, sich spätestens bei der Geiselübergabe
durchlöchern zu lassen.
"In Ordnung. Lassen sie mich jetzt rein, ja?"
Und man ließ ihn rein.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass nur wenige Bibliotheksbesuche mit
solch einer Spannung verbunden waren. Mark stöberte nahezu ungestört
durch einige Schriften, umzingelt von Polizisten mit schweren Maschinenpistolen.
Die Verwalter hielten den Atem an. Die Wachen bewegten sich nicht. Zu sagen,
dass in diesem Raum Totenstille geherrscht hätte, würde eine Art Disko-Lautstärkepegel
im Jenseits implizieren. Zu sagen, dass in diesem Raum auch Totenstarre herrschte,
würde einen der Lautstärke angepassten Breakdance-Wettbewerb unter
der Erde andeuten. Oder, um eine andere Metapher anzustrengen und die Toten
in Frieden ruhen zu lassen, es herrschte eine Atmosphäre wie auf der Hindenburg
kurz vor dem flammenden Inferno.
Wie das irgendeiner der Anwesenden geschlagene sechs Stunden lang aushielt,
bleibt bis heute ein ungelöstes Rätsel - aber auch kein all zu wichtiges
im Vergleich zu der Frage, welche Kombination von Wörtern den - in aller
Höflichkeit - entgleisten Gesichtsausdruck bei Mark auslöste. Wortlos
klappte dieser das Buch zusammen, steckte es zurück in ein Regal und wärmte
sich noch ein paar Sekunden in der Abendsonne, bevor er sich zu den Polizeibeamten
umdrehte.
"Alles klar. Drei von ihnen werden mich jetzt zum Flughafen begleiten,
die Eskorte dürfte für die Sicherheit der jungen Dame ausreichen.
Was sie angeht, Miss...folgen sie mir bitte, wenn sie nicht lebensmüde
sind."
Unter einem wahren Gewitter von Photoapparaten und Fragen bahnten die Polizisten
Mark und Chrome einen Weg zu ihrem Auto. Chrome tat ihr bestes, weiterhin panisch
auszusehen, die Polizisten bekamen langsam ein flaues Gefühl in der Magengrube
beim Gedanken daran, dass diese Aktion tatsächlich gut gehen könnte,
und Mark nutzte die Zeit für etwas Öffentlichkeitsarbeit.
"Mr. Simmons, haben sie gefunden, wonach sie gesucht haben?"
"In der Tat."
"Und wohin geht es jetzt?"
"Hoffentlich an den richtigen Ort, sonst werden sie nächste Woche
ihren Job los sein. Sonst wird jeder nächste Woche seinen Job los sein.
Und das ist keine Drohung, sondern eine nüchterne Tatsache. Schönen
Tag noch."
Ohne weitere Worte setzten sich unsere beiden Helden in den Wagen, welcher
von einer einzelnen Streife zum nächsten Flughafen begleitet wurde. Glücklicherweise
hatte man Marks Forderungen erfüllt, und ein gesamtes Rollfeld war vollkommen
verlassen, menschenleer, geräumt - nun ja, wollen wir mal den Thesaurus
nicht überanstrengen, auf jeden Fall befanden sich genau fünf Personen
im Umkreis von zwei Kilometer. Mit vorgehaltener Pistole führte Mark Chrome
zum Flugzeug.
"Das ist also eine Flugmaschine, hm? Sieht ganz schön hässlich
aus."
"Ist aber praktisch."
"Das bestreite ich nicht. Wohin soll es eigentlich gehen?"
"Az hat sich etwas geirrt. Das Siegel liegt auf den Azoren, oder um genauer
zu sein, vor den Azoren. Unter Wasser. Ich werde mir wohl einen Panzertauchanzug
aus einem Forschungsinstitut ausleihen müssen."
"Was zum Teufel ist ein Panzertauchanzug?"
"So was wie eine Rüstung, aber wasserdicht und mit einem Sauerstofftank."
"Na ja, wenn du so scharf darauf bist - mich würdest du in so etwas
nicht hineinkriegen."
"Ich glaube, unsere Freunde werden ungeduldig. Zeit für das Gegenmittel."
Chrome angelte eine Eisentablette aus ihrer Tasche und schluckte sie so übertrieben,
dass es die Polizisten einfach sehen mussten.
"Die Sonne geht gleich unter. Beeilen wir uns."
Mark zielte wieder mit einer seiner Pistolen auf Chrome und drückte ihr
einen leeren Zettel in die Hand - wiederum klar sichtbar für die Polizisten
-, dann machte sich Chrome auf den Weg. Auf dem Weg zurück betrachtete
sie aufmerksam die Sonne, und im tiefsten Zweilicht kam sie bei den Polizisten
an.
"Sinora ? Geht es ihnen gut?"
"Ja, alles wieder in Ordnung. Ich bin so froh, dass ich endlich bei ihnen
bin!"
Mit gespielter Erleichterung warf sie sich einem der Polizisten um den Hals.
"Sinora, wo sind die Bomben?"
Die Sonne ging unter.
"Wissen sie, er hat mir ein Geheimnis anvertraut. Er hat mir einen Zettel
gegeben, aber er war leer. Dann hat er gesagt, es gab gar keine Bomben, und
auch kein Gift."
"Aber
"
"Und ich habe auch ein kleines Geheimnis für sie: Ich war nicht seine
Geisel."
Als der Polizist sie wieder losließ, stand Avenger vor ihm, mit tiefschwarzen
Haaren und einem tiefschwarzen Grinsen.
"Schönen Dank für die Hilfe. Und, falls wir uns nicht mehr sehen:
Guten Tag, guten Abend und gute Nacht !"
Mit einer gewaltigen rechten Geraden streckte sie den Polizisten nieder und
versetzte seinem verdutzten Nachbarn einen Tritt in die Magengrube. Der dritte
Polizist war geistesgegenwärtig genug und eröffnete mit seiner Maschinenpistole
das Feuer. Dreißig Kugeln Kaliber 9mm flogen kreischend durch die Nacht
und rissen Löcher in Avengers Oberkörper. Diese war davon eben nicht
begeistert und stahl dem Beamten jede Selbstillusion eines Triumphes, als sie
sich von der Wucht des Angriffs wieder erholte und sich vor ihm in Position
brachte.
"Du Arschloch, die Jacke war brandneu!"
Sprach es und langte ihm einen Kieferbrechenden Haken, der den Polizisten zurückwarf
und ihn auf den Boden straucheln ließ, bewusstlos vor Schmerz und Schock
ob der Nachjustierung seiner Schädelknochen. Währenddessen hatte sich
der zweite Polizist wieder vom Boden aufgesammelt und humpelte nun zurück
zum Streifenwagen.
"Der will abhauen!"
Ohne weitere Worte legte Mark mit seiner Pistole an, zielte kurz und zog dann
durch; mit Überschallgeschwindigkeit verließ eine Kugel den Lauf
seiner Waffe und sorgte dafür, das wenige Sekundenbruchteile später
das rechte Bein des Polizisten quasi explodierte; Spritzer von Blut und Fleisch
fielen auf den Boden, genauso wie ein vom Schmerz überwältigter Waffenträger.
Dieser konnte nur noch panisch auf sein ruiniertes Bein starren, bevor Avenger
über ihm auftauchte.
"Endstation, Snoopy."
Es kostete sie nur noch einen Tritt gegen sein Nasenbein, um den Kampf zu beenden;
selbstzufrieden starrte sie auf das Resultat ihrer Bemühungen, während
Mark hinter ihr ansprintete, immer noch mit rauchenden Waffe.
"Das waren jetzt alle, oder?"
"Denke schon. Fesseln wir sie jetzt?"
"Ja, aber erstmal verbinden wir die Wunde von dem Typen hier. Und übrigens
- warum gerade Snoopy?"
"Wieso nicht? Ist das in eurer Kultur ein Name für irgendetwas?"
"Du willst mir erzählen, dass es nur Zufall war?"
"Hör mal, ich hab keine Ahnung, wovon du eigentlich redest. Hilfst
du mir jetzt mit den Typen hier oder muss ich die selber versandfertig machen?"
"Sicher doch. Hol schon mal die Seile aus dem Wagen, ich schau mir die
Wunde an."
Avenger zuckte nur noch mit den Achseln und verließ die Szene; Mark nutzte
eines seiner Messer, um das Hosenbein seines Opfers zu zerschneiden. Nach kurzer
Untersuchung sah er, dass die Kugel glatt durchgegangen war und dabei gar nicht
gerade wenig Schaden angerichtet hatte.
"Hey Av, kommst du mal hier rüber? Die Type hier braucht deine Talente."
Nach einer Minute war Avenger vor Ort; mit einem nicht gerade besonders begeisterten
Gesichtsausdruck machte sie sich an die Arbeit, und nach wenigen Sekunden hatte
sich die Wunde unter ihren Händen geschlossen.
"Musste das sein? Ich bin so schon mächtig ausgelaugt."
"Wenn es nur eine Fleischwunde gewesen wäre, hätte ich dich nicht
damit belästigt. Aber dem Mann hier habe ich das Bein ruiniert. Wenn wir
einfach über Leichen gehen und Leute zu Krüppeln schießen, sind
wir auch nicht besser als die Leute, gegen die wir kämpfen."
"Entschuldige mal kurz, wenn ich deinen kleinen Vortrag über Selbstgerechtigkeit
unterbreche, aber sollten da nicht zwei Polizisten liegen?"
Mark warf sich auf seinen Rücken, noch bevor der Schussknall bei ihm ankam;
die Kugel zischte über ihn hinweg, und er landete auf dem harten Asphalt
bereits in einer Drehbewegung, um sich dem neuen alten Ziel zuzuwenden. Eine
weitere Kugel verfehlte ihn, aber das Mündungsfeuer verdeckte den Polizisten,
und Mark feuerte auf gut Glück ein Projektil in Richtung seines Angreifers.
Jahrelange Reflexe und Übung machten sich bezahlt; die Kugel saß
und warf den Polizeibeamten zu Boden. Fast ungläubig erhob sich Mark aus
dem Staub und deutete Avenger, ihm zu folgen; beide näherten sich dem Polizisten
und betrachteten die Wunde, die ziemlich genau ein bestimmtes inneres Organ
links neben dem Brustbein getroffen hatte.
"Was meinst du?"
"Schöner Herzschuss."
"Das meine ich nicht."
"Wenn du daran denkst, ihn wieder hinzubiegen, vergiss es. Du hast ihm
die Pumpe heraus geblasen. Der Schaden ist zu groß. Bei Az war es nur
ein Herzstillstand durch Schock, aber das hier ist eine ganze Dimension schlimmer.
Um solche Wunden zu heilen, müsste ich wirklich gut im Futter stehen."
"Also können wir ihm nur noch den Gnadenschuss geben?"
"Retten können wir ihn nicht. Ich schlage vor, du lässt mich
ihn aussaugen. Dann habe ich wenigstens noch etwas davon."
"Das können wir nicht tun!"
Mark beugte sich über den Polizisten und starrte ihm in die Augen.
"Das wird schon wieder."
Mark versuchte, dem Polizisten zu helfen. Er legte die Wunde frei, in der Hoffnung,
dass der Schuss vielleicht doch nicht so ins Schwarze getroffen hatte, wie es
seine Partnerin prophezeit hatte. Aber an der Wunde war nichts mehr zu heilen,
nichts mehr zu flicken; der Polizist röchelte nur noch leise unter ihm
und verlor langsam nicht nur sein Bewusstsein, sondern auch sein Leben. Heißes
Blut besudelte den Boden, wusch über Marks Finger, und ein Schatten legte
sich über seine Schultern.
"Lass gut sein. Wenn er stirbt, nutzt er mir nichts mehr."
"Es muss gehen!"
Der Polizist siechte langsam, aber sicher dahin. Nach ein paar Sekunden stand
Mark auf und drehte sich um. Hinter seinem Rücken hörte er nur noch,
wie Avenger ein paar Fangzähne in den Hals des Halbtoten versenkte. Nach
ein paar Sekunden war von dem Patienten nichts mehr zu hören, und Avenger
ließ von der Leiche ab.
"Fesseln wir die anderen?"
"Wir haben zu viel Zeit verloren. Wir müssen weg."
"Was ist mit dem Toten?"
"Wenn wir ihn begraben, schlafen wir heute Abend neben ihm. Wir müssen
los."
"Für jemanden, der sich so für sein Leben eingesetzt hat, bist
du an seinem Seelenheil nicht gerade sehr stark interessiert."
"Es gibt eine Grenze zwischen Mitgefühl und Dummheit. Los jetzt !"
Mit fast schon übertriebener Hast luden Mark und Avenger den größten
Teil ihrer Ausrüstung aus dem Auto aus; dann übergoss Mark den Geländewagen
mit Benzin. Das heißt, übergießen ist hier das falsche Wort,
eigentlich sättigte er die gesamte Karosserie mit entflammbarer Flüssigkeit.
Die Sitzpolster saugten sich munter mit kurzkettigen Kohlenwasserstoffen voll,
unter den Reifen bildeten sich kleine Seen potentiellen Feuers, und von den
Benzoldämpfen im Wageninneren wäre selbst ein Blauwal noch ordentlich
high geworden. Zufrieden mit seiner Arbeit zückte Mark ein Feuerzeug, erzeugte
nach zwei Versuchen eine ordentliche kleine Flamme und warf die kleine Plastikhülse
in den Wagen.
Eine Sekunde lang passierte gar nichts.
Dann verwandelte sich der Wagen in ein einzelnes flammendes Inferno.
Zufrieden mit seiner Arbeit wandte sich Mark ab und bewegte sich auf das Flugzeug
zu; nach etwa zwei Sekunden explodierte der Wagen und schleuderte Schrott um
sich herum, während Mark seelenruhig weiterlief. Dabei hatte er sehr viel
Glück, denn ihm fiel nichts auf den Kopf - was ja nicht nur schmerzhaft
gewesen wäre, sondern auch ziemlich lächerlich ausgesehen hätte.
Mit dem Gesichtsausdruck eines Geistesblitzes stoppte Mark bei der Leiche des
Polizisten und warf sie sich über die Schulter, wonach er seine Annäherung
an das Fluggerät fortsetzte. Avenger hob eine der Tragetaschen mit den
vielen, vielen Waffen auf und warf einen skeptischen Blick in Marks Richtung.
"Was soll das werden? Willst du ihn später beerdigen?"
"Nein. Aber er wird unseren Flug nehmen."
"Entschuldige, wenn ich da jetzt nicht ganz hinterherkomme. Wir müssen
schnellstmöglich nach Westen, was man am besten mit einem Flugzeug macht.
Hier steht ein Flugzeug, und du willst es nicht nehmen? Und was soll die arme
Sau damit? Der ist doch schon tot!"
"Ja, aber das wissen die Piloten der Abfangjäger nicht."
"Abfangjäger? Wovon redest du?"
"Ich wäre mit dem Teil hier keine zehn Kilometer weit gekommen. Sobald
sie das Flugzeug sichten, werden sie es abschießen, damit sie mich loswerden.
So eine gute Gelegenheit gibt es nur selten."
"Also nehmen wir das Flugzeug nicht. OK. Aber was soll die Leiche?"
"Ganz einfach. Wir setzen ihn ans Steuer, starten die Triebwerke, stellen
auf Autopilot, klemmen das Gas fest und springen ab. Wenn wir den Autopilot
auf ne vernünftige Höhe einstellen, werden sie denken, dass wir es
sind und den Jet abschießen. Wenn wir ihn von hier aus nach Westen schicken,
ist er bis zum Abschuss locker über dem Meer. Bis die das Wrack gehoben
haben und merken, wem sie da eine Seebestattung verpasst haben, sind wir schon
längst woanders. Erste Regel des Schleichens - spiele mit den Gedanken
deines Gegners, und schlag von hinten zu, während er Phantome jagt."
"Auch ein blindes Huhn
"
Ja, auch blinde Hühner finden Körner, und tote Füße können
noch Gas geben, wie die Leiche des Polizisten eindrucksvoll demonstrierte. Mark
schaute sich sein Werk an, zufrieden mit der Platzierung der Leiche - und eines
kleinen Pflastersteins, um sicher zu gehen -, dann klemmte er das Steuer fest,
startete die Motoren und schaffte es gerade noch, den Autopiloten einzuschalten,
ehe er aus dem langsam beschleunigenden Flugzeug herausspringen musste - wobei
er wiederum nicht besonders sanft landete, aber seien wir mal ehrlich, Asphalt
ist nun mal hart, da kann man so langsam draufknallen, wie man will. Noch einmal
schaute er dem Flugzeug nach, das sich majestätisch - oder war es eher
stotternd? - in die Lüfte schwang.
"Hm, ich hätte noch einen Weg finden müssen, das Fahrwerk einzuziehen."
"Und einen Weg, das Steuer wieder zu lösen."
"Wieso?"
Staunend verfolgte Mark, wie das Flugzeug immer steiler flog, schließlich
fast senkrecht nach oben schoss, und dann recht plötzlich wieder nach unten
segelte, aufgrund eines winzigen physikalischen Phänomens namens Strömungsabriss,
etwas, womit nur die wenigsten Piloten Erfahrung hatten, weil auch nur die wenigsten
Piloten ihren ersten Strömungsabriss überleben - obwohl sich die Frage
stellt, wer denn auf die Idee kommen würde, einen dauerhaften Steigflug
zu versuchen, und ob solche Leute überhaupt Piloten und nicht lieber Buntglassortierer
seien sollten. Wobei man auch bei Buntglassortierern wieder unterscheiden muss
in bodenständige, vernünftige Menschen und die erhabenen Wenigen mit
einem notorischen Risikokomplex zwecks Masochismus - also einfacher ausgedrückt
die Leute, die diese fiesen Messerspielchen zum Hobby haben und sie nicht so
richtig beherrschen. Natürlich ist und war die gesamte Diskussion hochgradig
akademisch, kam doch niemand bei diesem Manöver ums Leben - wenn wir mal
von ein paar Tannenbäumen absehen, von denen einige auch schon in bisherigen
Verlauf unseres Abenteuers kein Glück hatten.
Aufgrund des nicht erwarteten Ergebnisses spiegelte sich die wirklich filmreife
Explosion leider in einem nicht besonders geglückten Gesichtsausdruck seitens
Mark.
"Av ?"
"Ja ?"
"Unser Zeitplan wurde gerade eingeengt. In zwei Worten - zum Wagen!"
"Zur Brandruine oder zur - Mist, wie nennst du diese Fahrzeuge?"
"Bullenkutsche. Und ja, selbige meine ich. Los, hilf mir mit den Waffen."
Wenige Minuten später wunderten sich ein paar sonst hauptsächlich
auf Fortpflanzung zentrierte Kaninchen, wieso denn auf einmal zwei riesige Glühwürmchen
so nahe über dem Boden auf sie zuflogen. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen,
muss die grausame Wahrheit doch ausgesprochen werden: Mark und Avenger hielten
das junge Pärchen lediglich für ein Schlagloch. Man mag darüber
philosophieren, was der Tod zweier Nagetiere für eine historische Signifikanz
hat, aber es bleibt Fakt, dass durch diesen Umstand zwölf Kinder Vollwaisen
wurden - und schließlich wird der modernen Geschichtsschreibung gerne
vorgeworfen, zu wenig auf Persönlichkeiten einzugehen. Man mag nur dunkel
erahnen, wie sehr die kleinen Rammler durch dieses Ereignis traumatisiert wurden.
Höchstwahrscheinlich so weit, dass sie sich gleich am nächsten Morgen
vor den ersten Altöltransporter auf der Autobahn warfen, was wiederum zu
einem verheerenden Verkehrsunfall mit mehreren schwer verletzten Egos führte,
womit wir wieder bei einer der Grundannahmen moderner Straßenbau-Philosophen
wären:
Alles Elend dieser Welt stammt von Schlaglöchern, die keine sind.
Bedauerlicherweise war es aber auch schon das einzig bemerkenswerte, was die
folgenden Reise begleitete. Man kann nicht gerade behaupten, dass so ein gestohlenes
Polizeifahrzeug unauffällig ist, aber das ist natürlich immer relativ,
und um überhaupt auffällig zu sein, hätte es ja erst einmal jemand
sehen müssen. Dieser jemand hätte dann darüber nachdenken müssen,
warum kein Polizist am Steuer saß, sich daran erinnern müssen, dass
irgendetwas nicht stimmte und dann auch noch die Kraft aufbringen müssen,
zum Telefon zu gehen. Klar ersichtlich also, zu viel Arbeit für einen einzelnen
Menschen. Unter dem Segen der öffentlichen Apathie erreichte das dynamische
Duo ein Ufer, oder, nein, nennen wir es einen Strand. Kein besonders schöner
oder großer Strand, aber immerhin, wenigstens lag er am Meer - das können
viele der schönsten Sandwüsten nicht behaupten.
Die Gegend war weiträumig verlassen - bis auf ein kleineres Meeresforschungsinstitut.
Ein kleines Meeresforschungsinstitut, finanziert von irgendeiner obskuren amerikanischen
Medikamentenfirma, die es sich leisten konnte, riesige beleuchtete Werbetafeln
neben Highways aufzustellen oder kleinen Kindern mit Antidepressiva versetzte
Milch zu verkaufen - kurzum also ein Konglomerat schlechter bis katastrophaler
Ideen, über Wasser gehalten durch exzessiven Steuerbetrug bei gleichzeitigem
gründlichen Missmanagement. Oder, noch einfacher ausgedrückt, das
ideale Opfer für Schwarzkuttenträger mit großkalibrigen Feuerwaffen.
Vielleicht sollte es Mark mal mit einer freundlichen Anfrage probieren. Also
etwas, was nicht klingt wie:
"Keine Bewegung, Krabbenspanner !"
Man muss ihm lassen, dass seine Taktik normalerweise funktionierte. Normalerweise.
In diesem Fall jedoch starrte er in die gelassenen Gesichter mehrerer Meeresbiologen.
"Wenn sie die Güte hätten, etwas leiser zu sein. Diese Tiefseefische
reagieren äußerst empfindlich auf Lärm, besonders bei den schwingenden
Frequenzen der menschlichen Stimme."
Mark senkte seine Waffe.
"Und bitte stecken sie doch ihre Waffe weg. Sie sehen auch so schon gefährlich
genug aus, und wir haben keine Zeit, uns irgendwelche melodramatische Reden
überschwänglicher Schwerkrimineller anzuhören. Also, kommen sie
doch bitte zum Punkt."
"Nun ja, also, um ehrlich zu sein
"
"Ja?"
"Ich muss schnellstmöglich zu den Azoren und ein paar schlecht kartografisierte
Tiefseegräben absuchen."
"Und wie haben sie sich das vorgestellt?"
"Nun ja, sie haben doch sicher ein Boot, und einen Panzertauchanzug
"
"Haben sie Erfahrung mit solcher Ausrüstung?"
"Nein."
"Ist die Umgebung gefährlich?"
"Höchstwahrscheinlich."
"Werden sie bei einem Erfolg die Zeit finden, die Ausrüstung zurückzubringen?"
"Nein."
"Gibt es einen guten Grund, warum wir ihnen das Zeug überlassen sollten?"
"Alternativ könnte ich sie alle niederschlagen und es einfach so klauen."
"Hm. Ms. Seltzer, was meinen sie dazu?"
"Wir müssen nachher noch die Versuchsreihen der Mikroorganismen auswerten.
Da können wir keine Verzögerung gebrauchen."
"Also?"
"Sie sind Mark Simmons, oder?"
"Erkannt."
"Na, dann haben wir eine gute Ausrede für die Versicherung. Einer
unserer Trawler ist voll ausgerüstet, steht am Ende des Piers. Die Schlüssel
stecken. Nehmen sie das Boot und lassen sie uns in Frieden arbeiten."
"Na gut."
"Ach, und falls sie Zeit finden, bitten wir sie, einen der Fragebögen
an Bord auszufüllen, und das Boot nicht abzufackeln oder in einer wahnwitzigen
Verfolgungsjagd gegen einen Felsen zu setzen."
"Tja, also, danke?"
"Entfernen sie sich jetzt bitte, wir haben zu tun. Wir wären ihnen
wirklich sehr verbunden, wenn wir die gesamte Ausrüstung in einem Stück
zurückbekommen könnten. So fern sich das einrichten lässt."
Ohne weitere Worte verließ Mark den kleinen Raum (und damit auch die
gesamte Einrichtung, im wesentlich - bei näherer Betrachtung - nur ein
Containerbüro) und kehrte zu Avenger zurück, die am Wagen wartete.
"Und?"
"Sprechen wir nicht drüber. Da hinten liegt das Boot."
Ohne weitere Konversation wurde Ausrüstung umgeladen - nun schon zum dritten
Mal für diesen Tag. Mark verhielt sich auffallend ruhig, und der gesamten
Aktion haftete etwas unbestimmt Beängstigendes an, weshalb sich Avenger
nicht gerade in Hochstimmung befand - auch hinsichtlich der Tatsache, dass alle
Vampire in der Nähe von Wasser unruhig werden. Was wiederum vermutlich
auf der Tatsache basiert, dass sie sämtliche Schwimmlehrer bereits nach
der Theoriestunde aussaugen und deshalb nie lernen werden, wie man denn nun
eigentlich schwimmt. Wobei dies nun wieder die Folge nach sich zieht, dass die
Anzahl und Schwere der Forderungen der Schwimmlehrer nach einer gesetzlichen
Lebensversicherung einer der ganz wenigen proportionalen Faktoren ist, mit dem
die Schwere des Vampirbefalls in jeder gegebenen Gesellschaft geschätzt
werden kann. Dies hat nun die Folge, dass - ach, seien wir ehrlich, eigentlich
passierte überhaupt nichts spannendes, wenn man denn nun nicht gerade ein
Anhänger der Stummfilme ist, in dem ja bekanntlich starke Emotionen durch
nonverbale
aber wir schweifen wieder vom Thema ab.
Der Punkt ist, nach ein paar Minuten legte das kleine Boot ab und stürzte
sich in die ruhige Seelage des nächtlichen Mittelmeeres.
Innerhalb der Meeresforschungseinrichtung - eines der Worte, für die man
wirklich standardisierte Abkürzungen einführen sollte - ging auch
nichts Spannendes vor sich. Etwa eine Stunde lang passierte absolut nichts von
Bedeutung. Dann raffte sich einer der jüngeren, idealistischen Wissenschaftler
auf, schmetterte seinen Notizblock auf den Tisch und stampfte zum Leiter der
Einrichtung. Fast singend, halb schreiend, auf jeden Fall mit angemessenem Nachdruck
brüllte er selbigen mit einer Frage an. Nun gut, er brüllte nicht
- eigentlich war er sogar ausnehmend ruhig, aber sein Gesichtsausdruck spiegelte
doch eine gewisse Dramatik in sich.
"Sollten wir nicht die Polizei rufen?"
"Ja ja, rufen sie die Polizei, wenn es ihnen Spaß macht. Aber füttern
sie erst einmal die armen Zitronenhaie."
Von Gatac
|