Kapitel 3 - Gleiches Lied, zweite Strophe
„Wieso erwischt es immer die
Melonen?“
Glücklicherweise erwies sich
Azuriels mangelnde Detailkenntnis bezüglich Handfeuerwaffen
nicht als Hindernis bei der Beschaffung von dringend nötiger
Munition. Mehrere Kisten 9mm stapelten sich im Flur und wurden von
Dieter eifrig in leere Magazine umgeladen; Mark tat ähnliches
mit den Spezialpatronen für seine CAWS, deren Beschaffung den
Engel wohl ein kleines Wunder gekostet hatte. Calvin hatte an dem
ganzen Spektakel wenig Anteil, und jedwedes Rest-Interesse daran
verdampfte mit dem Klingeln seines Mobiltelefons.
„Mayhew.“
„Ich will mit ihnen reden.
Allein.“
„Frank Napoliano, nehme ich an?“
„Hundert Punkte. In einer halben
Stunde am Markt.“
Calvin verstaute das Telefon und warf
Dieter einen alles sagenden Blick zu. Dieter nickte und inspizierte
das PSG-1 in seinen Händen; Mark lud ein neues Magazin in die
CAWS, und Fiona schraubte einen Schalldämpfer auf die Mündung
ihrer Beretta.
Die vier Reiter machten sich auf den
Weg.
Auf dem Markt tobte das Leben wie ein
böses Omen. Die Ankunft eines einzelnen Autos wurde kaum
beachtet, was sich jedoch schon innerhalb weniger Augenblicke als
fatal erweisen würde; innerhalb des Fahrzeugs wurde die
Strategie noch einmal erläutert.
„Woran erkennen wir Frank?“
Fiona verdrehte die Augen, während
Dieter seine Berettas nochmals überprüfte.
„Sucht einfach nach dem größten
Arschloch, dass ihr finden könnt.“
Bevor die Diskussion ihr Crescendo
erreichen konnte, zersplitterte die Windschutzscheibe unter einem
wahren Kugelhagel; Fiona ereilte die zweifelhafte Ehre, als einzige
Insassin eine Kugel abzukriegen, während sich die Männer
schnellstmöglich aus dem Auto und mitten in die panische Menge
warfen.
Inmitten der schreienden Menschen stand
Frank mit Anzug und rauchender H&K UMP; etwas ungehalten, aber
nicht unbedingt unfreundlich verfolgten seine Worte (und Kugeln)
Dieter.
„Willkommen in Italien!“
Dieter suchte Deckung hinter einem
Stand explodierender Früchte und wartete darauf, dass Frank
nachlud; Mark hatte seine CAWS in Auto vergessen und hockte jetzt mit
seinen USPs hinter einem Blumenstand – und Calvin war nirgendwo
zu sehen. Wunderbar.
Nach ein paar Sekunden Feuer musste
Frank nachladen und duckte sich hinter einen wunderschönen
Springbrunnen; Dieter nahm die Gelegenheit wahr und erwiderte den
Angriff. Eine der Melonen auf dem Stand explodierte; spätestens
beim kurz darauf folgenden Schussknall wurde Dieter peinlich bewusst,
dass irgendwo in den umgebenden Häusern ein Heckenschütze
lauerte. Im Anbetracht dieser ungünstigen taktischen Situation
war die Kurzbeschreibung der Situation durch Dieter’s
gemurmeltes „Scheisse!“ gar nicht so unangebracht.
Während Dieter noch in Deckung
lag, hörte er die nächsten Schüsse von Frank und dem
Heckenschützen. Reflexartig zog er seinen Körper weiter
zusammen, auf der Suche nach der Position mit der besten Deckung,
musste dann allerdings feststellen, dass der Ehrensalut gar nicht ihm
galt. Calvin fegte wie ein geölter Blitz an ihm vorbei, dem Blei
immer einen Schritt voraus, und warf sich schließlich hinter
einen in der Nähe geparkten Lieferwagen. Der Sinn der Aktion
erschloss sich Dieter bei einem Blick auf den Boden neben ihm –
Calvin hatte es tatsächlich geschafft, bis zum Auto
zurückzuschleichen, die PSG-1 aus dem Kofferraum zu holen, und
sie zu Dieter zu bringen. Der Söldner befreite die Langwaffe aus
ihrer Tasche und wandte sich Mark zu; der Killer nickte zurück,
und der Plan setzte sich in Bewegung.
In völliger Verachtung jedweder
Regeln des Kampfes rollte Mark aus seiner Deckung und deckte Frank
mit heftigem Feuer ein. Eine Kugel des Heckenschützen raste
knapp an seinem Kopf vorbei, aber zum Zeitpunkt des Schusses war
Dieter bereits mit dem Präzisionsgewehr in Lauerstellung; auf
einen Mündungsblitz aus dem zweiten Stock eines Wohnhauses
folgte eine Antwort in 7,62x51mm, die den Heckenschützen an der
Schulter verwundete und aus der Schusslinie warf. Mark stellte
kurzzeitig das Feuer ein, um den Anschein begrenzter Magazine zu
wahren; das erwies sich als ungünstig, denn Frank nutze diesen
Augenblick, um mit zwei Micro-Uzis den Paladin und Dieter wieder
hinter Deckung zu zwingen, während er sich absetzte. Innerhalb
weniger Sekunden war er verschwunden; Dieter ließ das Gewehr
fluchend fallen und wechselte wieder zu den Berettas.
„Frank gehört mir!“
Damit war Marks Aufgabe klar: den
Heckenschützen verarzten.
Mark sprintete über den Marktplatz
und warf sich auf dem Weg von Deckung zu Deckung; der Heckenschütze
hatte zwar eine Kugel abgekriegt, aber das war keine Garantie. Im
Treppenhaus des Wohnblocks musste Mark die Stufen schnaufend nehmen;
die komplette taktische Ausrüstung an seinem Körper erhöhte
sein Gesamtgewicht beträchtlich, und bei der halsbrecherischen
Geschwindigkeit musste sein gesamtes kardiovaskuläres System ein
paar Gänge nach oben schalten. Mit brennender Lunge schaffte er
es bis in den dritten Stock, aber die Blutspur im Gang führte
zur nächsten Treppe. Mark nahm sich einen Atemzug Zeit, den
Schützen zu verfluchen, dann machte er sich an den Rest des
Weges.
Dieter hatte ein ähnliches
Problem; bei ihm rührte die Anstrengung jedoch eher von seiner
Leidenschaft für Zigaretten als von zusätzlichem Gewicht
oder schwierigem Gelände. Er hatte es bis in den zweiten Stock
eines Wohngebäudes geschafft; vor ihm stand eine alte Holztür
offen, anscheinend eingetreten. Er betrat die Wohnung mit beiden
Zeigefingern in Schussposition. Nichts und niemand in seiner Nähe
maßte sich an, auch nur zu zucken.
Naja, bis auf die Taube auf dem Balkon.
Moment mal, Balkon?
Normale Menschen hätten zu diesem
Zeitpunkt bereits eine Kleinfamilie von Vollmantelgeschossen in ihrem
Schädel beherbergt; aber Dieter war ein hochtrainierter und
zutiefst paranoider Söldner, der es schaffte, nur auf Grund
einer anscheinend bedeutungslosen Information der plötzlichen
Gefahr mit einem Hechtsprung auszuweichen und im Flug sogar noch ein
9mm-Gewitter in Richtung des Fensters zu schicken. Er sah deutlich,
dass er Frank getroffen hatte, aber sein Sprung ließ ihn so
weit zu Boden sinken, dass sein alter Rivale aus dem Schussfeld
verschwinden konnte. Bei der Landung rollte Dieter über die
Schulter ab, landete halb hockend auf dem Boden und befreite die
potentielle Energie in angewinkelten Beinen für den nächsten
Satz. Wie ein Hürdenläufer nahm er das zerschmetterte
Fenster, sprang über das Geländer und landete ein Stockwerk
tiefer im Nachbargebäude, wo er nach kurzer Rolle die Waffe von
Frank vor seinem Gesicht hatte und mit einer seiner Berettas den
Gefallen erwiderte.
Erstaunlich, was man mit Training
erreichen kann, auch wenn man kein Metamensch ist...
Auf dem Dach am anderen Ende des
Marktplatzes spielte sich eine nicht ganz unähnliche Szene ab;
der Heckenschütze lag blutend auf dem Boden und starrte in die
Mündung von Marks USP. Auf den Wäscheleinen flatterte weiße
Bettwäsche, aber der Schütze hatte einige Laken auf seiner
Flucht mitgerissen und blutete nun auf Selbige. Mark hingegen hatte
etwas mehr Gelegenheit, den Attentäter zu studieren; die Wunde
saß in der rechten Flanke des Mannes, und hatte mit ziemlicher
Sicherheit eine Niere pulverisiert. Der Mann trug zwar eine leichte
Kevlarweste, aber gegen die volle Wucht einer Gewehrkugel konnte man
damit nicht viel ausrichten.
Wie gut, dass wenigsten einmal alles so
lief, wie es sollte. Mark lächelte.
„Sehr interessante
Fluchtstrategie. Kannst du fliegen?“
Der Mann erwiderte das Lächeln,
und auf einmal wurde Mark klar, dass er die Kontrolle über die
Situation verloren hatte. Der Schütze schnellte nach vorne und
packte Mark, bevor dieser feuern konnte; heißer, blendender
Schmerz schoss durch seine Adern, und er sackte zusammen, während
sich der Schütze mit neuer Macht aufrichtete.
„Noch nicht, Paladin. Noch
nicht.“
Mark musste vor Anstrengung kurz seine
Augen zusammenkneifen; als er wieder sehen konnte, war der Attentäter
weg. Der Schmerz in seiner Flanke ließ nur langsam nach, und
der Kampf war beendet. Anhand der lauter werdenden Sirenen entschloss
sich Mark für einen taktischen Rückzug.
Wie gründlich konnte man einen
Überraschungsangriff eigentlich versauen?
Von Gatac
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