Jede
Erfahrung verändert uns. Vor uns liegen unendlich viele Pfade,
aber wir können nur einen Weg wählen. Haben wir einmal
einen Weg gewählt, so wird es für uns mit jedem Schritt
schwerer, eine neue Richtung einzuschlagen. Das Schicksal, an das wir
glauben, erfüllt sich durch unsere eigenen Handlungen, und
scheint uns so uveränderlich wie die Vergangenheit selbst.
Aber
wenn die Vergangenheit nicht statisch ist, dann besteht unsere
Zukunft nur noch aus Möglichkeiten...
Kapitel 1 – Zweckehe
„Bis
dass der Tod uns scheidet...“
Bei Nacht
hatte Rom einige Feinheiten, die einen Touristen eher abschrecken
würden. Einige der Seitengassen waren eher schlecht als recht
beleuchtet, und dort geschahen Dinge, die einem die Lust auf
Souvenirs gründlich verderben konnten. Mark hatte sich in ein
Hotel eingemietet, während Az seine lokalen Kontakte werkeln
ließ; beim Einchecken war Mark ein Kandidat für eine
solche archetypische dunkle Gasse aufgefallen, und nun übte sich
der Paladin darin, mögliche Fluchtwege abzulaufen. Das ging
ungefähr fünfzehn Minuten lang gut, bis er zufällig
auf einen bewaffneten Raubüberfall stieß.
Mark hatte
keine spezielle Abneigung gegen Diebe, aber er hatte seine normale
Trainingszeit verpasst und dachte ernsthaft über eine Prise
Leibesertüchtigung nach. Als einer der Räuber dann eine
Pistole zog, schaltete Mark auf Nahkampfmodus und nahm die kurze
Strecke von seinem Versteck zu dem Waffenhalter mit einigen
bestimmten Schritten.
Dann
zuckte etwas Schwarzes durch die Luft, der Gangster lag auf dem
Boden, und Mark zielte mit dessen Pistole auf seine Kollegen. Mark
war nicht gerade ein Polyglot, aber einige Symbole und Gesten waren
universell: die Kollegen des Niedergeschlagenen begaben sich mit
einigem Nachdruck schnellstmöglichst weit, weit weg von Mark.
Der Paladin beäugte die Waffe – eine Glock 19 – und
ließ seinen Blick auf den bewusstlosen Jugendlichen wandern,
den er gerade ins Land der Träume geschickt hatte. Er war doch
etwas enttäuscht; einerseits, weil der Kampf extrem einfach
gewesen war, andererseits, weil er mit dieser Pistole den Beweis für
den mangelnden Lokalpatriotismus seiner Gastgeber in den Händen
hielt und die Korrektur seiner Vorurteile gegen Italiener ihn in
einem unbehaglichen Zustand zurückließ. Die Pistole war
nagelneu, und Mark steckte sie ein; nicht, dass er mit einer Neuner
arbeiten würde, aber vielleicht konnte man die Knarre ja
irgendwo mal als Wegwurfoption verarbeiten.
Die junge
Dame, der Mark gerade die Handtasche gerettet hatte, machte sich
ebenfalls schnell aus dem Staub, was er zwar verständlich fand,
ihn aber trotzdem auf eine gewisse Weise noch unruhiger machte. Warum
konnte er kein Gespräch mit normalen Leuten führen?
Vielleicht war es einfach mal wieder an der Zeit für eine
frische Rasur...
Der Abend
war auf jeden Fall gelaufen. Die Frau an der Rezeption störte
sich nicht daran, dass der schwarzgekleidete Neanderthaler-Nachkomme
– nein, Entschuldigung, Herr Krüger, so stand es auf dem
Reisepass – einen Kasten Bier nach oben ins Penthouse
schleppte, denn im Gegensatz zu manch anderen Gästen neigte er
dazu, seine Geräuschproduktion mit zunehmendem Alkoholpegel zu
reduzieren, was in einer Welt voller männlicher
Ethanol-Sammelbehälter mit asymptotischer Annäherung an die
Lautstärke eines Solo-Rockkonzerts in Abhängigkeit vom
Kohlenwasserstoffoxid-Pegel doch eine willkomme Rarität
darstellte.
Und er
zahlte im Vorraus! Mit Bargeld! Ein echter Prachtbursche.
Am
nächsten Morgen betrat Dieter Niederburger ein Restaurant in Rom
durch die Hintertür und verfiel in Remineszenz, denn in der Ecke
brutzelte die biologische Gummimischung für den Hausteller
Calamari Surprise, in dem der Söldner bei früheren Besuchen
schon mal den einen oder anderen sorgfältig frittierten Finger
vorgefunden hatte. Bei solchen Angelegenheiten zeigte sich Dieter
verständlich, aber seinem Appetit war es nicht gerade
förderlich. Ja, irgendwo musste die Mafia ja ihre
„Verhandlungen“ durchführen, aber bei Sizilianern
schien die Fragmentierung von weniger ehrlichen Geschäftspartnern
zum diplomatischen Reportoire zu gehören. Egal. Er hatte Hunger.
Aber er würde Fettucini bestellen.
Und das
Wiener Schnitzel? Naja, reden wir nicht darüber.
Fiona war
bereits vor Ort, als Dieter ungestört aus der Küche in das
eigentliche Restaurant trat. Der Tisch am Fenster beunruhigte ihn,
aber dann sah er die zwei rasierten Affen in schlecht geschneiderten
Anzügen dort und sagte sich, dass sie mit den breiten Schultern
ihre primäre Funktion als Kugelfang zu seiner vollsten
Zufriedenheit erfüllen würden. Natürlich hatte man die
Typen dafür nicht an den Tisch gesetzt, aber Dieter trug nur
eine leichte Kevlarweste und hielt sich seine Optionen offen.
Apropos
offen – Fiona zeigte sich ziemlich offenherzig, denn die
obersten drei Knöpfe ihrer wirklich unverschämt engen Bluse
waren offen, so dass etwas Spitze von ihrem BH herauslugte, und eine
Perle Schweiß begann ihren langsamen, hormonanregenden Weg von
ihrem langen, zarten, perfekten Hals nach unten zu ihren...
Ja, die
Ohrfeige hatte er verdient.
„Hallo,
Fiona. Schön, dich zu sehen.“
„Ich
hoffe, der Ausblick war den Eintritt wert.“
Dieter
rieb seine Wange geistesabwesend, während er sich am Tisch
niederließ.
„Ein
echtes Schnäppchen.“
„Das
war ja auch der Seniorenpreis.“
Diese
Bemerkung traf Dieter etwas härter, als er es wahr haben wollte,
aber er machte gute Miene zum bösen (Wort-)Spiel und richtete
seine Aufmerksamkeit auf die beiden in Anzugseide gepressten
Kampfmaschinen auf der anderen Seite des Tisches.
„Willst
du mir nicht deine Freunde vorstellen?“
„Das
sind Rocco und Paulie. Sie arbeiten für unsere Auftraggeber.
Mach dir keine weiteren Gedanken über die beiden Jungs, sie sind
nur als Beobachter hier.“
„Beobachter?
Aus Sizilien? Na, wenn du es sagst, Fiona. Ich hoffe doch sehr, dass
diese zwei Haarspraygorillas dort drüben nicht das beste
Personal sind, dass du auftreiben konntest.“
Dieter
lächelte die beiden Sizilianer an, die das Lächeln
erwiderten und es noch um eine neue Dimension von Grinsen
erweiterten, aufgrund welcher man den völligen Mangel an höheren
Hirnfunktionen nur zu gerne attestiert hätte. Daraus ergaben
sich zwei mögliche Schlussfolgerungen:
Die
Jungs malten sich gerade aus, was sie mit Dieter anstellen würden,
wenn die Mission vorbei wäre, oder
Die
Typen sprachen kein Wort Deutsch und hatten deshalb nicht die
leiseste Ahnung, was er ihnen gerade an den dicken Schädel
geworfen hatte.
Dieter
tippte auf letztere Option, leise vorahnend, dass die Antwort auf
dieses Mysterium bald nur noch von akademischem Interesse geprägt
sein würde...
Nur etwa
einhundert Meter entfernt bahnte sich ein Mann im Trenchcoat seinen
Weg durch die verschlungenen Gassen von Rom. Calvins Magen knurrte,
weil er in den letzten 16 Stunden genau ein Sandwich gegessen hatte
(ein gutes Sandwich, ganz ohne Zweifel, aber nun mal kein
Fünf-Gänge-Menü), und jetzt sollte er auch noch
irgendeinen kleinen Mafiaburschen in den nächsten Linienflug
nach La Guardia stopfen; was zum Teufel sollte das denn mit den
Siegeln der Apokalypse zu tun haben? Hatte der Engel jetzt endgültig
den Verstand verloren? Dann setzten seine Instinkte ein. Jemand
verfolgte ihn.
Wundervoll.
Würde
man die Bewegungen von Mark und Calvin an diesem Tage verfolgen,
könnte man leicht auf die Idee kommen können, dass Ersterer
Zweiteren verfolgte. Er hielt sich etwas weit zurück, aber der
Abstand blieb relativ konstant, und nach einigen Minuten musste man
zu der Schlussfolgerung kommen, dass Calvin versuchte, einen
Verfolger abzuschütteln, und dass dieser ein in Schwarz
gekleideter Attentäter aus New York sein müsste.
Soweit
stimmte das ja auch, aber es war nicht Mark. Denn der war etwas
weiter hinten und verfolgte Calvin’s „Schatten“ aus
dem einfachen Grund, dass er ihn erkannt hatte. Der Typ gehörte
zu einer kleinen Gruppe (von ebenfalls kleinen) Deserteuren, die sich
letztes Jahr aus ihrem Arbeitsverhältnis mit Michael Besuccho
„entzogen“ hatten, und dabei ein nicht unerhebliches
Sümmchen „Trennungsgeld“ mitgingen ließen, so
dass Besuccho jetzt ein ebenfalls recht stattliches Sümmchen
jedem zahlen wollte, der ihm dabei half, die Männer zu „töten“,
Zitat Ende.
Mark
vermutete (zu Recht), dass der vom Big Apple ausgespuckte Gartenzwerg
jetzt für Fredo arbeitete. Damit blieb es immerhin in der
Familie.
Der Mann
litt wohl etwas an Größenwahn (hah!), denn er schien sich
sicher zu sein, dass Calvin ihn nicht bemerkt hatte. Das war insofern
fatal, weil der Paladin hinter der nächsten Kurve einfach scharf
auf eine Feuerleiter zulief und sich dann mit einem (durchaus
beeindruckenden) Sprung außerhalb des Bereiches der
Sichtbarkeit beförderte; das führte dazu, dass sich Calvin
nun unbemerkt hinter seinen leicht verwirrten Verfolger setzen
konnte. Es gab einen Hieb und das beunruhigende Geräusch von
geschärftem Metall gegen Leder, dann lag der Attentäter-in-spe
auf dem Boden vor Calvin und befummelte panisch seine Jacke, deren
strategisch gewählte strukturelle Desintegration via Langschwert
das darunter befindliche Schulterholster angesteckt hatte; die
Schusswaffe lag also irgendwo im Dreck, und der Verfolger hatte ein
silbern glänzendes, sehr scharfkantiges und nahe seinem Kinn
ruhendes Problem.
Mark
wählte genau diesen Moment, mit gezogener Waffe die Ecke zu
umrunden und den beiden Streithähnen selbige zu präsentieren.
„Keine
Bewegung!“
Calvin
neigte seinen Kopf zur Seite und sah den Killer hinter sich. Seit
seiner Berufung verabscheute er Feuerwaffen, denn das Schwert war
sein neuer, bester Freund geworden. Dummerweise hatten die Leute um
Calvin die dumme Angewohnheit entwickelt, auf ihn mit besagten Waffen
zu zielen.
In solchen
Momenten zeigte Gott, dass er Humor hatte. Calvin fand es gar nicht
gut, ständig die Pointe zu spielen. Sein Blick wanderte zurück
zu dem Antiriesen vor ihm.
„Wunderbar,
noch ein Hinterhalt. Muss wohl dein Glückstag sein, Kleiner.
Dein Partner is aufgetaucht.“
Mark
näherte sich langsam, die Waffe immer noch auf den Calvin
gerichtet.
„Ich
hab mit dem Typen nichts zu tun. Ich will nur wissen, was hier
abgeht.“
„Sie
sind spät dran für unsere kleine Party.“
Irgendetwas
durchzuckte Mark. Ein anderes Gesicht, eine andere Stimme, aber genau
die gleichen Worte...nein, das konnte nicht sein – aber er
musste sich sein.
„Dann
bring mich mal aufs Laufende – Dämon.“
Mit dem
letzten Wort wurde der Abgebrochene unruhig und bewegte sich
rückwärts krabbelnd von Calvin weg, laut „Verstärkung!“
brüllend. Calvin seufzte und beobachtete vollkommen gelassen,
wie sich der Giftzwerg selbst in die nächste Ecke beförderte;
sein Lachen war menschlich, aber nicht gerade freundlich.
„Dämon?
Glaubst du, dass ich ein Dämon bin?“
Er wandte
sich an Mark.
„Hör
mal, ich hab nicht den blassesten Schimmer, wer du bist, aber Mr. Big
hier ruft gerade seine Kindergartenfreunde zu Hilfe, und ich hatte
eigentlich nicht vor, ihn zu halbieren. Ich will auch ein paar
Antworten. Also steck die Knarre weg, bevor du jemanden verletzt.“
Sprachs
und schritt mit fester Mine auf den Kurzen zu, hiefte ihn mit einer
Hand am Kragen nach oben und bescherte ihn mit einem Schwertgriff in
die Schnauze einen (dringend notwendigen) Schönheitsschlaf.
Während Mark die Waffe wegsteckte und sich langsam näherte,
beäugte Calvin sein Werk.
„Zicke.“
Mark hatte
sich inzwischen weit genug angenähert, um die halbe Portion zu
inspizieren; an der Stelle, die Calvin mit dem Schwertgriff
bearbeitet hatte, bildete sich bereits eine fette Beule. Mark
lächelte.
„Der
wird nachher Aspirin brauchen. Nun zu dir, Meister
Ich-benutze-mein-Schwert-als-Knüppel. Was geht hier ab?“
Calvin
begutachtete Mark kritisch; einerseits hatte er ihn gerade noch
bedroht, aber andererseits schien er keine bösen Absichten zu
verfolgen, und mit dem Sprachstil war es für ihn total
unmöglich, auch nur im Entferntesten für die Besucchos zu
arbeiten.
„Calvin
ist der Name, Müllabfuhr das Spiel. Bin hier, um mit Fredo zu
sprechen. Sieht so aus, als wolle er den Termin absagen.“
Mark
nickte.
“Ich
hätte ihn auch gerne gesprochen...ohne ihn zu verbeulen. Der Typ
hat aber wohl verdammt viel Paranoia. Ich hab schon nen Anschlag
hinter mir.“
Calvin
nickte.
„Willkommen
im Verein.“
Dieter
liebte Zigaretten. Das war kein Fashion-Statement oder eine Frage von
Stil; nein, er war einfach süchtig nach Glimmstengeln, und die
geringe Lebenserwartung in seinem Gewerbe wog jedwedes
Lungenkrebsrisiko vollständig auf. Oh, es gab Nichtraucher. Jede
Menge. Sie faselten von Statistiken und Laborversuchen. Oder von
„guten Freunden“, deren Leben durch das Rauchen ruiniert
worden war. Oder von Kindern, die durch Passivrauchen zu Tausenden in
frühe Gräber geschickt wurden.
All das
wussten sie. Nur nicht, wie gut die erste Zigarette nach dem
Aufstehen schmeckte.
Als er
sich erneut eine Nikotinstange anzündete, bemerkte er zwei
dunkel gekleidete Gestalten in einer Seitengasse, die über
irgendetwas zu diskutieren schienen. Den ersten erkannte er nicht;
der zweite Mann kam ihm irgendwie bekannt vor, als hätte er
schon einmal ein Foto gesehen, aber der Name fiel ihm im Augenblick
nicht ein. Seine Aufmerksamkeit wurde dann jedoch auf das nahende
Motorengeräusch eines Audis gezogen, der sich mit bahnbrechender
Geschwindigkeit auf das Restaurant zubewegte. Er ließ die
Zigarette fallen, stampfte sie mit dem rechten Fuss aus und fühlte
sich dazu berechtigt, sein Lieblingswort zu benutzen.
„Scheisse.“
Von Gatac
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