Kapitel 8 – Der blutige Pfad Gottes
„Das
ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...“
Irgendwie
hatte es Mark tatsächlich fertiggebracht, auf der Rückbank
zu schlafen. Das war insofern bedeutend, dass besagte Rückbank
eine Art Kriegserklärung an die Ergonomie darzustellen
versuchte; andererseits hatte Mark seit seinem Absprung nicht mehr
geschlafen, und nach 30 Stunden Aktivität signalisierte ihm sein
Körper, dass er langsam etwas Ruhe brauchte. Und der
„Etwas“-Teil war nicht gerade untertrieben – 12
Stunden ruhiger, tiefer Schlaf waren die Folge. Es hätte so
schön werden können – aber dann durchbrach eine
Stimme die Isolation. Ihre Stimme.
„Warum
machst du das?“
Er starrt
sie an, verwirrt und plötzlich aus dem Konzept gebracht.
„Warum
fragst du?“
„Es
interessiert mich eben.“
„Schau
doch aus dem Fenster. Lauter Abschaum. Jemand muss es tun.“
Der Klang
ihrer Stimme.
„Was
ist mit den Polizisten?“
„Ich
habe nichts gegen Polizisten.“
„Auch
nicht, wenn sie dich wie ein Tier hetzen?“
„Das
ist ihre Aufgabe.“
„Und
deine ist es, all diese Menschen zu töten?“
„Ja.“
Ihr
dunkles, langes Haar, wie es selbst im kalten Neonlicht strahlt.
„Aber
warum du?“
Die
Schlafpause war zwar lang, aber Marks emotionaler Gesundheit stark
abträglich, denn auf das Hochschrecken aus dem Albtraum folgten
keine Kopfschmerzen, sondern eine sonderbare Leere, als hätte
jemand mit chirurgischer Präzision alle wichtigen Bauteile aus
Mark entfernt und die Hülle wieder zugenäht. Dieses
furchtbare, altbekannte Gefühl. Der Verlust seines Vaters. Und
jetzt Sharon...
Als dieser
Gedanke durch Marks Bewusstsein schoss, schlugen gleich mehrere
Radarfallen zu; der Faden dieses Denkansatzes wurde aus dem Seil
herausgetrennt und unter die Lupe gelegt.
„Sharon...“
„Wer?“
Mark griff
nach seinem Mantel und zerfleischte ihn fast, bis er die Skizzen fand
und die richtige Zeichnung zu Tage förderte. Seine Finger
strichen über das zerknitterte Papier, als ob die Erinnerung das
Bild zum Leben erwecken könnte. Die Leere explodierte in ein
Feuerwerk von Gefühlen, jeder Fetzen eine brilliante Explosion
von Farbe und Textur, alles zusammen in einen gewaltigen Kunstwerk,
ein Tuch aus unendlich vielen Fäden, gewebt zu Ehren von ihr...
„Sie
heißt Sharon.“
„Also
erinnerst du dich?“
„Etwas...“
„Und?“
„Rom...ich
war schon einmal in Rom.“
„Blödsinn.
Du hast die Staaten noch nie verlassen.“
„Ich
war in Rom. Ich weiß es.“
„Also
gut. Du warst schon einmal in Rom. Was sagt uns das?“
„Bessucho.
Fredo Bessucho. Er weiß etwas.“
Azuriel
nahm kurz seinen Blick von der Straße; gerade lang genug, um
Mark eine ungläubige Variante des Selbigen zuzuwerfen.
„Jetzt
ernsthaft?“
„Nein,
ich übe nur meinen geschockten Gesichtsausdruck fürs
Laientheater! Natürlich ernsthaft.“
„Noch
irgendwelche anderen Eingebungen?“
„Wir
brauchen Waffen.“
Azuriel
zog die CZ 75 aus dem neben ihm liegenden Rucksack; Mark hingegen
langte kurz in seine Reisetasche und förderte die CAWS zu Tage,
was bei Az ohne nennenswerte Verzögerung den schwer zu
verbergenden Gedanken an Überkompensation und den schwer zu
erklärenden Impuls zur Beschaffung von Tötungsmaschinerie
von größeren Bauart hervorruf.
„Geht
klar. Ich höre mich mal bei meinen Auftraggebern um, was wir
noch besorgen können.“
„Dann
brauchen wir noch eine sichere Wohnung, und etwas mehr Bargeld wäre
schon nicht schlecht...“
„Mal
zurück zu den Waffen. Was brauchen wir eigentlich? Das ist nicht
gerade mein Spezialgebiet.“
Mark
unterzog die Tasche einer gründlichen Inspektion, während
es Azuriel langsam dämmerte, dass er seine mühsam
gewonnenen Erkenntnisse im Bezug auf Schwertkampf jetzt wieder mit
einem Minimum an Konsequenzen verschrotten konnte.
„Hm,
ein PSG-1 wäre nicht schlecht...“
Einige
hundert Kilometer entfernt schickte ein PSG-1 ein Projektil auf den
Weg, welches sich nach etwa 600 Metern Überschallflug dann mit
geradezu erschreckender Präzision in ein Ziel bohrte. Dieses
bestimmte Ziel wies eine rötliche Färbung auf, was
allerdings – ausnahmsweise – nicht von einer wild
blutender Wunde verurscht wurde. Nein, das Objekt war eine (weniger)
handelsübliche Zielscheibe, rötlich gefärbt zur
besseren Sichtbarkeit auf dem Untergrund.
Denn
dieser Schuss spielte sich auf einem Höhenniveau von knappen
tausend Metern über Normalnull ab, und der Schütze sowie
das Ziel lagen in einer ausgedehnten Fläche überragender
Weiße, aufgespannt von Frau Holles Überstunden-schiebender
Saisonhilfskraft. Der Schütze begutachtete den Schuss mit der
Zieloptik seines Präzisionsgewehrs, nickte zufrieden und
beschloss dann, das nach 10 Kilometern Langlauf und 20 Schuss das
tägliche Outdoor-Ertüchtigungsprogramm wieder einmal
erfolgreich abgeschlossen werden konnte. Hier oben würden sie
ihn nicht finden. Hier oben nicht.
Und falls
doch, hatte er genügend Munition und Waffen, um jeden dieser
Bastarde über den Jordan zu schicken.
Dieter
Niederburger – seines Zeichens international gesuchter und
niemals zu Scherzen bezüglich seines Namens toleranter Söldner
– hatte diesen Ort ganz bewusst als Operationsbasis ausgesucht.
In der Abgelegenheit dieses vom Tourismus weitgehend unerschlossenen
Bereichs der Alpen konnte er ungestört seine Fähigkeiten
trainieren, sofern er einige gewisse Grundsätze bezüglich
der Waffenauswahl beachtete und nicht aus Versehen irgendwelche
Bergsteiger ventilierte. Außerdem hatte die Ruhe dieses
Gebietes den Vorteil, dass er jedes Geräusch entweder durch
eigene Einwirkung erzeugte oder totsicher schon auf große
Entfernung identifizieren konnte. Das hämmernde Echo aus dem Tal
konnte zum Beispiel nur von einem Hubschrauber stammen, der sich an
seine Residenz annäherte; außer ihm gab es keinen Grund,
in diese Gegend zu fliegen. Dieters erster Impuls bestand darin, sich
auf den Besuch von seinem lokalen Kontakt – Fiona Maravelli,
die (im positiven Sinne) Sirene mit ordentlichem Vorbau –
vorzubereiten, bis sich sein Verstand dazuschaltete und ihm sagte,
dass die nächste Versorgungslieferung erst in zwei Tagen
anstand. Das beunruhigte Dieter nicht im Geringsten; jetzt, da er
einen Angriff erwartete, konnte er mit völliger Sorglosigkeit
sein Gewehr nachladen. Irgendwie war es ihm ganz recht, mal wieder
ein paar Menschen zu töten. Diese Zielscheiben waren einfach zu
langweilig.
Fünf
Minuten später lag er in Deckung und begutachtete den
schwebenden Hubschrauber mit der Zieloptik seiner Waffe. Die
Seitentür war geöfnt, und Fiona schwenkte ihre Arme, um
ihre Anwesenheit zu verkünden. Vielleicht hatten sie Fiona als
Geisel genommen. Dieter sicherte das Gewehr und beförderte es
via Trageriemen auf seinen Rücken; seine Hände füllten
sich innerhalb von Sekunden mit zwei Beretta 98.
Nahkampf.
Ohne
äußerliche Anspannung schritt er auf den landenen
Blackhawk zu - nicht Fionas üblicher Bell 206, was seine
Vermutung zu bestätigen schien – und war dann ernsthaft
überrascht, als sie lächelnd auf ihn zukam und keine Kugeln
flogen. Dann wurde ihm klar, dass unter ihrem Pelzmantel die stark
rotstichige Tarnfarbe einer Schweizer Militäruniform blitzte.
Die Berettas verschwanden, und er schaltete sein Denken von „Ausgaben
für Munitionverbrauch“ auf „Einnahmen durch
Munitionsverbrauch“ um. Ein neuer Auftrag; wurde auch langsam
Zeit.
„Hallo,
Fiona.“
Die
Umarmung fiel etwas seltsam aus, da Dieters Griff trotz seiner (ähem)
bedenklichen Tieflage nicht von einer Ohrfeige quittiert wurde.
„Schön,
dich zu sehen. Und nimm deine Hand da weg.“
„Sie
passt aber so gut dort hin.“
Fiona
lächelte ihn an.
„Drei
Sekunden, oder ich muss dir den Arm brechen.“
„Klingt
nach einem akzeptablen Angebot.“
Schließlich
entfernte er die Hand doch, denn die restliche Besatzung des
Hubschraubers gefiel ihm nicht, und er wollte sich nicht mehr als
üblich von seiner Vorliebe für das Körperliche
ablenken lassen. Stattdessen zündete er sich eine wohlverdiente
Zigarette an, während Fiona ihre Anwesenheit zu erklären
versuchte.
„Du
erinnerst dich doch sicher an Michael Bessucho.“
„Der
alte Mike. Hat sich doch seit kurzem in New York breitgemacht, oder?“
„Genau.
Aber er hat wichtigere Dinge zu tun. Er braucht jemanden, der die
Geschäfte dort leitet.“
„Und?“
„Und
sein Sohn Fredo lässt es sich in Rom gutgehen. Wir haben aus
zuverlässigen Quellen erfahren, dass Bessucho jemanden
angeheuert hat, um seinen Sohn nach Hause zu bringen. Aber meine
Auftraggeber haben da noch einige Fragen an ihn...und sie haben zu
lange gezögert. Jetzt wollen sie dich. Du sollst ihn abfangen,
bevor er die Stadt verlässt, damit wir ihm ein paar Fragen
stellen können.“
„Und
die Typen, die Fredo zurückbringen sollen?“
„Interessieren
meinen Auftraggeber nicht. Solange wir unsere Antworten kriegen, ist
alles andere vollkommen egal.“
Dieter
nahm einen tiefen Zug von seiner Kippe und genoss die Wärme, die
seine Lunge füllte.
„Wer
ist sonst noch dabei?“
„Nur
ich.“
„Und
wer beschützt Fredo?“
„Das
wird dir gefallen. Frank Napoliano.“
„Frank.
Und ich nehme an, dass es deinen Auftraggebern auch egal ist, was mit
ihm passiert?“
„Genau.
Du hast freie Bahn.“
Dieter
lächelte. Das könnte ja noch eine ganz passable Woche
werden.
Von Gatac
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