Kapitel 7 – Der erste Tag
„Schicksal
ist die Abwesenheit einer plausibleren Erklärung.“
„Wow.“
Mehr fiel
Karen Ayers nicht ein, als sie ihr neues Büro betrat. Im
Anbetracht der Anstrengung, die sie für diesen Job unternommen
hatte, war das vielleicht verständlich. Jeder Schritt ihres
Weges hierher war schwierig gewesen. Nicht nur, weil sie eine etwas
sehr in sich selbst gekehrte, überdurchschnittlich intelligente
Frau war; ihr stand auch eine gewisse genetische Vorbelastung im Weg.
Es gab einen guten Grund, warum die meisten Metamenschen nicht gerade
wild darauf waren, ihre Fähigkeiten offen zuzugeben; schließlich
schienen die Medien die Fälle der gewalttätigen Exemplare
liebend gerne herauszustellen. Karen hingegen hatte keinen Hehl
daraus gemacht. Sie hatte sich mit Zähnen und Klauen ein
Jurastudium an der Uni von New York erarbeitet und ihren Abschluss
mit Bestnoten geschafft; jetzt arbeitete sie entgegen aller
Widerstände für den Bezirksstaatsanwalt. Sie machte sich
keine Illusionen, dass es einfach werden würde.
Das Büro
war nicht gerade besonders groß, und das begrenzte Volumen
wurde größtenteils vom Schreibtisch und mehreren
Aktenschränken ausgefüllt. Ihre Vorgängerin hatte
einen schönen Haufen Akten auf ihrem Arbeitsstapel hinterlassen;
kleinere Fälle, Diebstähle und Sachbeschädigungen. Sie
wusste, dass sie in ihrer Karriere noch N dieser nervtötenden
Akten bearbeiten würde, wenn man N als die Zahl der
Wiederholungen eines abstumpfenden Arbeitsvorganges bis zum völligen
Verlust jeder Motivation definierte. Aber auch das würde sie
überstehen. Ihr Privatleben war sowieso schon im Arsch; mit
völliger Konzentration auf ihre öffentlichen Aktivitäten
konnte sie diesen Schreibtischjob überstehen, selber als
Prozessanwalt tätig werden und dann endlich aller Welt zeigen,
dass nicht jeder Metamensch ein feuerspeiendes Monster war.
Sie griff
eine beliebige Akte aus dem Stapel und begann die Zeilen zu
überfliegen; eine Ruhestörung in Queens. Ein Mann
behauptete, in einem Lagerhaus Krach gehört zu haben, darunter
einige Schüsse; allerdings fand man im Lagerhaus nichts vor, das
auf einen Kampf hindeutete. Das Rätsel klärte sich relativ
schnell auf; irgendjemand hatte eine Reihe Dosen auf ein altes Regal
gestellt und sie dann zum Spaß runtergeschossen. Also Anklage
gegen Unbekannt, zumindest wegen Einbruch und Ruhestörung. Karen
freute sich irgendwie darauf, den Typen festzunageln;
unverantwortlicher Umgang mit Feuerwaffen war ihr ein ernsthafter
Dorn im Auge.
Als sie
die letzten Zeilen las, überkamen sie leichte Kopfschmerzen.
Ihre übernatürliche Fähigkeit war subtil, aber
mächtig; sie erhielt oftmals Vorahnungen, die sie nur selten auf
die falsche Spur brachten. Wenn sie sich darauf konzentrierte, konnte
sie sogar einige Sekunden direkt in die Zukunft sehen. Hier war ihre
Vision jedoch eindeutig genug; etwas war hier faul, und sie würde
herausfinden, was dort wirklich passiert war.
Anscheinend
war die Spurensicherung nicht besonders gründlich gewesen; die
Dosen wiesen Einschusslöcher auf, die „vermutlich“
von einer .45 stammten. Ansonsten gab es wenig zu bemerken. Sie
konzentrierte sich auf die Details, versuchte, in die Akte
einzutauchen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen; dann
bestand Klarheit. Sie konnte nichts mit ihren Vorahnungen beweisen,
aber sie hoffte, dass sie bald ein paar echte Beweise in der Hand
halten würde. Ihre Gedanken fokussierten sich auf einen Namen,
eine Person, einen Täter.
Simmons.
Am anderen
Ende der von Indianern für Glasperlen eingetauschten Insel –
oder, um genauer zu sein, in der Pathologie des Sacred Heart
Hospitals – befanden sich die Gedanken des diensthabenden
Arztes nicht einmal annähernd auf dem selben Kurs. Nein, Dr.
Schaefer machte sich gerade Sorgen darüber, wie zum Teufel er
seiner Freundin erklären würde, dass er schon wieder eine
Spätschicht schieben würde. Diesmal war es wirklich nicht
seine Schuld; Adam lag mit der Grippe zuhause im Bett und erheiterte
sein Siechtum mit einem Haufen DVD-Staffelboxen, und irgendjemand
musste ja die verdammten Leichen begutachten. Dr. Schaefer schob die
Bahre vor ihm in den Autopsieraum und fragte sich plötzlich aus
heiterem Himmel, warum er überhaupt Medizin studiert hatte.
Dann hörte
er ein Räuspern am anderen Ende des Raumes und schüttelte
dem Schicksal die Hand.
Hätte
man Jack Schaefer gefragt, wie tote Menschen aussehen, wäre die
Beschreibung als gepflegt vermutlich nicht in seiner Antwort
enthalten gewesen. Aber der Typ, der dort drüben stand, hatte
ordentliches, kurzes Haar, trug einfache weiße Kleidung und
erklärte dem verdutzten Doktor, dass
er
die Manifestation einer toten Seele sei, und zwar
die
eines obdachlosen Metamenschen, dem Jack am Vortag etwas Geld
gespendet hatte, mit der Folge, das
die
beiden von jetzt an zusammenarbeiten würden, und zwar
im
Auftrag der Gerechtigkeit.
Jacks
Reaktion auf diese Eloquenz war ein einfaches „Heilige
Scheisse!“. Der Mann nickte und gab Jack zu verstehen, dass die
ganze Situation auch für ihn nicht unbedingt einfach wäre;
dann ergoss sich ein blinde Hasstirade gegen den Zustand des
amerikanischen Sozialsystems aus seinem Munde, und nach einigen
Einschüben über die lausigen Straßengangs von heute,
die einen töten und dann noch nicht einmal irgendetwas klauen,
und warum sein Leben sowieso schon vorher im Eimer war, und so
weiter, und so fort...jedenfalls fragte sich Jack nach all dem, wie
ein Mann mit einem solchen Vokabular einem Daueraufenthalt in der
Hölle entgehen konnte.
„Mein
Problem,“ sprach der Mann in Weiss, „ist die
Nichtanerkennung meiner guten Taten.“
„Ja,“
antwortete Jack, denn er war sich nicht ganz sicher, ob man auf so
einen Aussage überhaupt eine gute Antwort geben konnte.
„Man
hat mir die Auflage erteilt, noch einige gute Taten zu wirken, bevor
man mich in den Himmel lässt.“
„Oh.“
Zu diesem Zeitpunkt schüttelte Jack die rechte Hand seiner
geistigen Gesundheit und sprach zum Abschied leise ciao, dann setzte
er sich – metaphorisch gesehen – auf seine vier
Buchstaben und wartete auf den Wahnsinn.
„Du
hast dich würdig erwiesen, in meinem Namen zu wirken.“
„Äh...“
„Auf
gutes Gelingen, Partner.“
Und mit
diesen Worten überbrückte der Mann in Weiss die zwei Meter
zwischen ihm und Jack, und der gute Doktor verlor das Bewusstsein.
Wie man
ihm später berichtete, hatte man Jack Schaefer bewusstlos auf
dem Fussboden gefunden – fieserweise aufgrund der Tatsache,
dass sich ein junger Praktikant etwas Geld von ihm leihen wollte –
und ihn dann einfach in das nächste freie Bett gepackt. Dann
waren seine Lebenszeichen wohl etwas von der ANSI-Norm bezüglich
Stabilität abgewichen, und man hatte ihn sozusagen zur
Sicherheit mit einem ganzen Flohmarkt an medizinischen Gerät
beklebt, wovon Jack eher ent- als begeistert war. Eigentlich fühlte
er sich ganz gut, aber etwas trocken in der Kehle, und das
vorschriftsmäßige Glas Wasser (natürlich still –
man wollte ja den armen Patienten nicht die sensorische Überlastung
des Prickelns aufbürden) stand wenig vorschriftsmäßig
1,67 m weit entfernt auf dem Tisch, und Jack hatte weder die
Inklination noch die Schmerztoleranz, sich die ganzen Klebpads from
Körper zu reißen und dann aus der Liegestätte zu
entsteigen.
Diese
verdammten Schwestern, was lernen die heutzutage eigentlich? Das Glas
gehört auf den Nachttisch, ihr Schwachmaaten, und wenn ihr das
nicht bald auf die Reihe kriegt, dann fliegen sie aber, die Fetzen,
und dann braucht ihr mir nichts mehr vorzuheulen...
Dann hatte
er das Glas in der Hand, und es war faszinierend, fantastisch und das
wohl erschreckendste Erlebnis seines Lebens, wenn man einmal von der
Begegnung mit dem Geist in der Pathologie absah. Dass der Geist jetzt
auf einem Stuhl vor ihm saß, schlug dem Fass den Boden ins
Gesicht, oder sowas in der Richtung; auf jeden Fall war Jack von der
jüngsten Reihe an Ereignissen so geschockt, dass er einen
Nirvana-gleichen Zustand völliger geistiger Stille erreichte, in
dem ihn nichts mehr erschrecken oder verwundern konnte. Dann sprach
der Geist zu ihm, und mit dem unhörbaren Geräusch einer
weit entfernten Schrotflinte rückte Nirvana in weite, weite
Ferne...
„Was?“
„Ich
sagte, es besteht noch Hoffnung für dich.“
„SECURITY!“
„Das
wird dir auch nicht helfen.“
Jack
hämmerte auf den Rufkopf – nur um ganz sicher zu gehen –
und bedachte die erste in den Raum stürmende Krankenschwester
mit einem Ausruf von überhöhter Lautstärke.
„Schaffen
Sie den Mann dort raus!“
Die
Schwester blickte ihn kurz verdutzt an und machte dann auf der Stelle
kehrt, leise die durchgeknallten Ärzte verfluchend.
„Hey!
Was soll das? Den Typen da auf dem Stuhl!“
„Die
anderen Leute können mich nicht sehen, Jack. Nur du. Hör
zu, wir müssen...“
„Wir
müssen gar nichts. Ich mach mich jetzt auf den Weg nach Hause.
Dort werde ich mich betrinken und meine Freundin beglücken. Und
du Flachwichser kannst dir deine Ziele sonstwohin stecken, denn
sobald ich aus diesem Raum raus bin, wird die ganze Sache für
mich nie passiert sein. Verstanden?“
Der Mann
in Weiß nickte gedankenverloren und wanderte ans Fenster,
während Jack die verschiedenen Pads von seiner Haut entfernte
und sich wieder anzog. Als er die Türklinke ergriff, räusperte
sich der Geist noch ein letztes Mal.
„Du
kannst nicht davor fliehen.“
„Schau
zu und lerne.“
An diesem
Abend betrank sich Jack nicht, denn der Kühlschrank war leer.
Und seine Freundin hatte bereits ihre Fahrkarte ins Schlummerland
gelöst, als er ins Schlafzimmer kam, also fiel die Aufgabe von
Jacks Selbstkontrolle für fleischliche Genüsse ebenfalls
flach. Der Mann in Weiß werkelte noch etwas in der Küche
rum, wohl auf der Suche nach Sprühkäse. Jack war das
inzwischen egal.
Wenn er
gewusst hätte, was ihm jetzt noch bevorstand, dann wäre er
wohl unter Aufgabe jeglicher Selbstbeherrschung schreiend aus dem
nächsten Fenster gesprungen. Da er es aber nicht wusste,
reduzierte sich seine Schallproduktion auf ein leises Schnarchen.
Der Schlaf
der Gerechten.
Von Gatac
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