Kapitel 5 – Der Weisheit
„Auf
der Autobahn zur Hölle gibt es kein Tempolimit.“
Azuriel
musste sich eingestehen, dass er eine Art seltsame Ehrfurcht vor Mark
empfand. Der Killer, der ihm an der Straßenbar direkt gegenüber
saß, schien die Wahrheit relativ gut zu verarbeiten. Er hörte
sich alles an, was Azuriel zu erzählen hatte, aber der erwartete
Schockeffekt trat nicht ein. Zum Schluss war der Engel sogar soweit
gegangen, etwas zu viel zu verraten (oder zumindest meinte er, dies
getan zu haben), aber auch das schien dem Schwarzkuttenträger
nicht ernsthaft zu beeindrucken. Schließlich gab der Engel auf
und nippte resigniert an seinem Latte Machiato.
„OK,
also, wir müssen ein paar Siegel finden.“
Der
Paladin in spe nickte und nahm einen Schluck von seinem Kaffee.
„Eine
Frage hätte ich da noch.“
„Ja?“
„Machst
du dir keine Sorgen, dass dich jemand erkennt?“
„Nicht
wirklich. Das ganze System funktioniert nach einem Prinzip der
Glaubensrückkopplung. Solange die Leute glauben, dass Raphael
Santiago tot ist, werden sie mich nicht erkennen. Und die Leute, die
mich nicht kennen...tja, die wissen sowieso nicht, ob sie mich
irgendwie erkennen sollten, und sobald sie von Raphael hören,
greift der Paragraph. Funktioniert aber leider nicht mit
Metamenschen.“
Bevor Mark
fragen konnte, was zum Teufel denn ein Metamensch ist, erfasste er
den Gesichtsausdruck des Engels und kam zu der Schlussfolgerung, dass
dieser durch eine scheinbar so offensichtliche Frage misstrauisch
werden könnte. Alles fühlte sich subtil falsch an, als wäre
der Himmel nicht wirklich blau oder der Kaffee nicht wirklich bitter.
„Also,
wenn du mein Kontaktmann bist, wer sind dann die zwei hier?“
Der
Krieger fischte zwei Bögen Papier aus seinem Mantel. Azuriel
beäugte die Skizzen, aber aus seinem Gesichtsausdruck ließ
sich ableiten, dass ihm die ganze Geschichte sowieso schon gewaltig
auf die Nerven schlug und er jetzt keine besondere Neigung verspürte,
dieses Rätsel zu lösen. Während Mark ein paar
Geldscheine auf den Tisch packte, erhob sich der Engel und starrte
himmelwärts, als wolle er fragen, wieso sowas immer nur ihm
passierte.
„Woher
soll ich das wissen?“
„Hör
mal, ich hab nicht die leiseste Ahnung, was hier eigentlich abgeht.
Ich weiß nur, dass ich irgendwelche Siegel abklappern soll. Da
wir also anscheinend beide keine Ahnung haben, sollten wir das Thema
nicht weiter strapazieren.“
„Klingt
nach einer guten Idee.“
Aus dem
Gespräch wurde ein kurzer Spaziergang, aus dem Spaziergang eine
Wanderung, und aus der Wanderung eine Art Pilgermarsch; schließlich
fand sich das dynamische Duo an der Kathedrale Santa Maria Maior
wieder. Az schien zu wissen, wohin der Weg führte; an einem
kleinen Seitengebäude gewährte eine alte Tür Einlass
in einen Durchgang in ein Kellergeschoss. Dieser Raum wiederum wurde
beherrscht von der imposanten Präsenz eines Mannes
unbestimmbaren Alters, gekleidet in eine simple Mönchskutte und
ausgezeichnet durch eine wirklich extrem glänzende Vollglatze,
geschmückt durch eine Makellosigkeit, dass Mark ernsthafte
Zweifel an der vormaligen Existenz von Haarbüscheln auf dieser
Kopfhaut kamen. Der Mann schien sich an ihrem Eindringen nicht zu
stören; er nickte Azuriel sanft zu.
„Willkommen.
Womit kann ich dienen?“
„Ich
brauche eine Feldausrüstung, Bündel A.“
„Einen
Moment, bitte.“
Während
der Mann im Hintergrund einige Regale durchsuchte, überprüfte
Mark den Raum und kam zu der Erkenntnis, dass hier offensichtlich vor
einiger Zeit viel Zeit und Aufwand investiert worden war, man dann
jedoch bei der Aufrechterhaltung dieses Maßes an Enthusiasmus
kläglich versagt hatte. Leicht irritiert ob diesem Konflikt
zwischen straffer Organisation und anscheinender Nachlässigkeit
wandte er sich an Azuriel, der die Arbeit des Mönches zu
überwachen schien.
„Was
soll das jetzt werden?“
„Wir
brauchen etwas Hilfe. Mein Kollege stellt uns diese Hilfe zur
Verfügung. Soll ich dir eine Karte zeichnen?“
„Kollege?
Ist der Typ ein Engel?“
„Eigentlich
ist er ein Avatar.“
„Avatar?“
„Himmlische
Wesen. Sie verkörpern einen bestimmten Aspekt.“
„Aha.
Und was für ein Avatar ist der Typ?“
„Hilfsbereitschaft.“
Genau in
diesem Moment musste sich Mark eingestehen, dass er ernsthaft daran
dachte, Azuriels selbstgefälligen Gesichtsausdruck mit einem
Vorschlaghammer umzustrukturieren. Während der Killer seine
gewalttätigen Impulse mit schierer Willenskraft auf einen
unfreundlichen Gesichtsausdruck herunterhandelte, näherte sich
der Avatar mit einem neutral aussehenden Stoffrucksack, den er
Azuriel ohne Schnörkel übergab; der Engel nickte, dann
öffnete er das Behältnis und überprüfte den
Inhalt. Einige Minuten lang tat Azuriel etwas, das Mark großzügig
als Inspektion bezeichnen konnte; schließlich fischte er eine
Pistole aus dem Rucksack. Marks erster Eindruck von der Waffe schien
auf eine Browning Hi-Power hinzudeuten, was er jedoch nach einem
zweiten Blick verwarf und zu einer CZ 75 korrigierte. Damit hatte
Azuriel zumindest schon einmal Marks Neugierde geweckt; es gab
immerhin gebräuchlichere Seitenwaffen im Kaliber 9mm. Er
beschloss, die Frage auf später zu verschieben; Azuriel
verabschiedete sich von dem Avatar mit einem Kopfnicken, und wenige
Minuten später war der Keller nur eine weitere verschwommene
Erinnerung, ein Flimmern in der fast unerträglichen Hitze.
Auf der
Suche nach einem Transportmittel musste Azuriel seine naiven
Vorstellungen ala „Geld auf den Tresen, Schlüssel nehmen,
wegfahren“ um mehrere Dimensionen ausweiten. Zunächst
bestand Mark darauf, keine Namen zu hinterlassen, womit sich die
Auswahl entweder auf den grauen Gebrauchtwagenmarkt oder Diebstahl
reduzierten. Zweiteres wäre vermutlich geradezu brutal einfach
gewesen, wenn Mark nicht unpassenderweise bemerkt hätte, dass
man doch gefälligst einen Wagen stehlen sollte, dessen
Abwesenheit keine Polizeiaktivität nach sich ziehen würde.
Das kleine Schauspiel zog sich etwa eine halbe Stunde hin,
strapazierte Azuriels Geduld über jedes vernünftige Maß
hinweg und endete erst, als Mark scheinbar aus heiterem Himmel ein
Auto aussuchte und genauer betrachtete.
„Können
wir das Auto jetzt nehmen, oder findest du die Farbe scheisse?“
„Hier
geht es nicht um das Aussehen.“
Mark
blickte kurz um sich, stellte die Leere der Seitengasse fest und
deutete dann auf ein offenes Kellerfenster.
„Da
kommt der Stoff rein.“
„Welcher
Stoff?“
Mark hatte
Azuriels Verwirrung ausgenutzt und einen Satz Dietriche in das
Kofferraumschloss des Automobils eingeführt; mit einigen
gekonnten Handgriffen öffnete er den Gepäcktransportabschnitt
und förderte etwa ein Dutzend kleine Päckchen zu Tage.
„Diesen
Stoff.“
„Was
zum...“
„Drogenkurier.“
„Ich
weiß nicht, ob ich beeindruckt oder verstört sein sollte.“
„Entscheide
dich später. Jetzt müssen wir erstmal den Mist hier
loswerden.“
„Indem
wir die Päckchen durch das Kellerfenster werfen?“
Mark
grinste.
„Wahnsinn,
was du immer für gute Ideen hast. Ja, genau das werden wir jetzt
tun. Hilf mir mal kurz...“
Einige
Minuten später war der Wagen auf der Strasse, und die
europäische Verbrechensstatistik hielt den Atem an...
Von Gatac
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