Teil 5 - Skorpione und andere Delikatessen
"Wow, ich wusste gar nicht, dass man sich auch auf den Augenlidern Sonnenbrand
holen kann."
Am anderen Ende des afrikanischen Kontinents setzte ein schillernd weißes
Linienflugzeug auf einem geringfügig überfüllten Flughafen auf.
Zugegebenermaßen passierte das dort etwas häufiger, also müssen
mehrere zusätzliche Anhaltspunkte zur genauen Identifizierung des atmosphärischen
Fortbewegungsmittels angefügt werden. Zum einen hatte diese Maschine auf
ihrem weiten Weg nach Süden mehrere Zwischenstopps eingelegt. Des Weiteren
hatten sich durch ungünstige Wetterbedingungen mehrere Verzögerungen
auf diesen Stopps ergeben, die zusammengerechnet fast 12 Stunden Verspätung
ausmachten. Schlussendlich befand sich ein uns allen wohlbekannter Dämon
auf diesem Flug, welcher von dieser ungünstigen Korrelation der Ereignisse
nicht ganz unverärgert war.
Klarer ausgedrückt war Sharon beim Aussteigen in der richtigen Laune,
dem erstbesten Zollbeamten einen Kehlkopf zu entreißen.
Bei der eigentlichen Untersuchung gesellten sich ein paar weitere Gründe
für diese Einstellung zu den erstgenannten hinzu. Einerseits schien der
ältliche Zollbeamte (der, seinem Aussehen nach zu urteilen, den Besuch
eines Kieferorthopäden aus philosophischen Gründen ablehnte) ein wenig
zu interessiert daran zu sein, zu beweisen, dass Sharon irgendwo in ihrer Kleidung
eine versteckte Waffe trug - was ja nicht so falsch war, auch wenn die gesamte
Angelegenheit ein Vorwand für mehrere gründliche Leibesvisitationen
zu sein schien. Anderseits hielt man sie dann bei der Gepäckkontrolle erneut
auf, und sie versuchte angestrengt darüber nachzudenken, ob jemand den
Schrei eines temporär impotenten Zollbeamten mit ihr in Verbindung bringen
würde. Auf jeden Fall konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der uniformierten
Nicht-Arbeitslosen auf ihren metallenen Koffer, während ihr Rucksack anscheinend
ignoriert wurde.
"Sagen sie, was ist in dem Koffer?"
Sharon zog eine Augenbraue hoch, dann öffnete sie den Koffer und präsentierte
den schleimigen Inhalt.
"Ich bin Töpferin und habe meinen eigenen Ton mitgebracht. Der muss
in diesem Koffer kühl gehalten werden."
Einer der Beamten zupfte am Ärmel seines Kameraden und sprach ihn geringfügig
indiskret an.
"Du, das habe ich schon mal in einem Film gesehen. Da war so' n Typ, irgendwo
aus Asien her, und der hatte da einen Koffer mit einer Schicht aus Latex, und
darunter war eine Knarre!"
Der andere Beamte starrte seinen paranoiden Partner an, als wolle er sagen,
dass niemand in Wirklichkeit daran denken würde, so was abzuziehen, dann
wandte er sich Sharon zu.
"Sie töpfern also, hm?"
"Hey, sehe ich vielleicht asiatisch aus? Wie soll ich denn sonst meinen
Ton transportieren?"
"Jones, reich mir mal dein Taschenmesser."
"Sie wollen doch nicht da rein stechen, oder? Die Keime an der Klinge würden
den Ton ruinieren!"
Der paranoide Beamte schien sich etwas zu entspannen.
"Halb so wild. Ich hab mein Messer sowieso zu Hause liegen lassen."
"Und ich hab keines dabei. Sie hätten nicht zufällig ein Messer
für uns, Gnädigste?"
"Klar. Wie soll ich bitte mit einem Messer durch den Metalldetektor kommen?"
Der Filmkenner sah sich gezwungen, die Logik dessen anzuerkennen, und sein Kollege
zuckte mit den Schultern.
"Stell dir mal vor, sie wäre ne Terroristin, und wir entdecken ihre
Waffen. Wir wären tot, bevor wir schreien könnten. Wenn sie keine
ist, haben wir ihren Ton ruiniert, und sie verklagt uns. Also, warum der Stress?"
"Gutes Argument. Sag mal, wann ist eigentlich Mittagspause?"
"Hat vor einer Minute angefangen."
"Mist! Machen sie, dass sie Land gewinnen, Miss, und töpfern sie gefälligst
nicht in meiner Nähe. Am Ende ist das noch gefärbter Plastiksprengstoff
oder so was."
Sharon schloss den Koffer und verabschiedete sich mit einem freundlich gemurmelten
"Danke für nichts, Flachwichser
", bevor sie sich mit gebotener
Eile vom Zoll entfernte. Bei dieser Gelegenheit beschloss sie, ihren Nebenverdienst
als Gastautor für Reisemagazine aufzustocken und diesbezüglich einmal
eine Inspektion des sanitären Bereiches durchzuführen. Dabei musste
sie der Ausschilderung und äußeren Aufmachung erst einmal miese Noten
zuweisen, denn erst nach einer Viertelstunde fiel ihr endlich eine kleine, schmierige
Tür als dunklem Holz auf, die anscheinend zu einem sagenumwobenen Ort namens
Damentoilette führen sollte. Mit allem gebotenen Nachdruck schob sie sich
durch eine Gruppe von auf wunderbare Weise animierten Haufen von Lumpen - allesamt
wohl auf dem Weg zum Anschlussflug - , unter denen wohl vor langer Zeit mal
Menschen gesteckt haben mochten. Schließlich erreichte sie den Durchgang,
schloss die Tür hinter sich und überprüfte die Umgebung.
Mehrere Kabinen. Dreckig, aber OK.
Licht. Nicht angenehm, aber OK.
Ein paar schmutzige Waschbecken. Ekel erregend, aber OK.
Ein Typ in schmutzigen Klamotten, der einem weiblichen Homo sapiens sapiens
mit seiner linken Hand die Nahrungsaufnahmeöffnung blockierte und in seinem
anderen Manipulationsorgan ein scharfkantiges Metallobjekt hielt. Nicht OK.
Unser heldenhafter Kuttenträger entschied sich dafür, die beiden
Wirbeltiere von einer nur halb-freiwilligen Paarung abzuhalten, und bewegte
sich festen Schrittes in Richtung des Paares. Ohne Worte tippte sie dem Mann
auf die Schulter und nahm dann eine Art ruhige Grundstellung ein, die Arme vor
der Brust verschränkt. Der maskuline Luftverdränger drehte sich in
ihre Richtung und schrie sie an.
"Was soll das werden, wenn es fertig ist? Willst du auch was von mir?"
Sharon verharrte in stoischer und stummer Nichtbewegung, während der Messerhalter
selbiges in ihre Richtung deutete. Dann lächelte sie kurz und erwachte
explosionsartig aus ihrer Starre; innerhalb einer halben Sekunde hatte sie den
Mann bei den Schultern gepackt und an sich herangezogen, wobei sie den Arm mit
dem Messer an ihrem Torso vorbei führte und ihr linkes Knie dazu benutze,
ein dauerhaftes Souvenir in den Leisten ihres Gegenspielers zu hinterlassen.
Der Möchtegern-Vergewaltiger jappte und krümmte sich, wobei sein Kopf
auf Sharons Schulter zur Ruhe kam und sich sein Messer einen Sitzplatz auf den
Bodenfliesen suchte. Sie hielt ihr Lächeln weiter aufrecht, dann wandte
sie ihren Kopf zu seinem Ohr und hauchte ihm ein paar Worte in sein offensichtlich
mangelhaft gepflegtes Hörorgan.
"Willst du mal meine Tyson-Imitation sehen?"
Ohne weitere Ankündigung versenkte sie ihre Zähne in seine Ohrmuschel
und wies ihren Kiefer an, sich bis zum Anschlag zu schließen. Dies mobilisierte
neue Kräfte in ihrem Opfer, der sich ruckartig von ihr losriss und dabei
selber dafür sorgte, dass er die längste Zeit seines Lebens Besitzer
von zwei vollständigen Ohren war. Ohne weitere Kommentare spuckte Sharon
das Stück verknorpeltes Fleisch aus und versetzte dem keuchend winselnden
Mann einen kräftigen Tritt unter die Rippen. Der Mann schrie noch ein letztes
Mal auf, dann sank er benommen zu Boden. Sharon inspizierte ihr Opfer noch kurz,
dann drehte sie ihren Kopf zur einzigen Zeugin.
"Wenn du irgendwann mal ohne Albträume schlafen willst, würde
ich vorschlagen, dass du jetzt Land gewinnst. Gleich wird's nämlich eklig."
Die Frau schaute sie noch einen Augenblick an, dann verließ sie stillschweigend
die Szene.
Nachdem Sharon sichergestellt hatte, dass sie mit dem Mann alleine war, versetzte
sie ihm einen weiteren Tritt in die Rippen, der nur noch von einem leisen Zusammenzucken
quittiert wurde. Ermutigt von dieser Reaktion zog sie den Kopf der Fast-Leiche
an den Haaren nach oben und flüsterte wieder in sein Ohr.
"Wenn du Charon triffst, grüß ihn von mir!"
Mit einem weiteren Lächeln schleuderte sie den Vergewaltiger gegen die
nächste Wand, die diese Kollision mit einem netten Zersplitterungsmuster
auf ihren Fliesen registrierte. Das Opfer hielt sich noch einige Sekunden aufrecht,
dann sank er endgültig zu Boden. Während Sharon noch darüber
nachsann, wie praktisch übermenschliche Kraft doch war, hob sie ihren rechten
Fuß über den Schädel am Boden und ließ ihn mit voller
Wucht nach unten sausen. Die kompromittierte strukturelle Integrität des
Craniums wurde damit endgültig vertrieben, und der Impuls des schwarzen
Stiefels übertrug sich auf ein halbes Dutzend Knochensplitter, die sich
in einer kleinen Explosion vom eigentlichen Schädel absetzten und der harten
Sohle Zugang zum Gehirn verschafften. Dieses widersetzte sich dem Druck nicht
besonders lange und löste sich endgültig in einen blutigen Pudding
von toten Nervenzellen auf, woraufhin sich ein Mischmasch aus verschiedenen
Körperflüssigkeiten nach dem Austritt aus diversen Körperöffnungen
auf die lange und beschwerliche Reise zum nächsten Abfluss im Fußboden
machte. Schließlich zog Sharon den Stiefel aus der offenen Wunde und beäugte
ihr Werk.
"Mist. Die Blutflecken werden wieder nicht rausgehen."
Nun, hier irrte der Dämon; mit ein paar Papiertüchern ließ
sich das Gröbste vom Stiefel und der Hose entfernen, und nach fünf
Minuten Nachbearbeitung - die von den starren Augen der Leiche mit anscheinend
großem Interesse verfolgt wurde - konnte Sharon den Raum verlassen, ohne
rötliche Schuhabdrücke zu hinterlassen. Nun schloss sich wieder einer
der langweiligeren Teile des Tages an - die Besorgung eines Mietwagens. Keine
Frage, auch solche Arbeiten sind ultimativ notwendig, aber das änderte
nichts daran, dass man sich beim Verleih einerseits unfreundlich und andererseits
sehr eifrig zeigte - letzteres allerdings erst, nachdem Sharon ein Bündel
US Dollar auf den Schreibtisch knallte und mit gebotenem Nachdruck einen Geländewagen
verlangte. Dieser wurde ihr mit verhaltenem Eifer zur Verfügung gestellt,
und bereits nach zwei Minuten zähen Verhandelungen über die Notwendigkeit
einer zusätzlichen Vollkaskoversicherung krallte sich das bereits vom Sonnenlicht
aufgeheizte Gummi auf den nicht weniger heißen Asphalt, was nach einer
kurzen ruckartigen Phase eine stetige Vorwärtsbewegung des Metallkastens
zur Folge hatte. Nach kurzer (also etwa vierstündiger) Stauphase verließ
der Wagen Kapstadt, und Sharon nutzte die Gelegenheit, bei der nächsten
Gelegenheit von der Straße abzubiegen und etwas gegen dieses schreckliche
Gefühl der taktischen Impotenz zu unternehmen.
Die Tonschicht im Koffer widerstand selbst dem ersten kräftigen Zug nicht
und verteilte sich auf den umliegenden Wüstensand, während die Latexmembran
darunter ebenfalls aufriss.
Die gekürzte Schrotflinte fand ihren Platz in einem Schulterhohlster,
während sich ein Colt 1911A1 in einer Aufhängung am Rücken breit
machte. Das ebenfalls eingelagerte G36 bildete sich nach Art des quadratischen
Kreises aus seinen Einzelteilen und landete unter einer alten Wolldecke auf
dem Beifahrersitz. Schließlich fanden sich noch einige kleine Splittergranaten
und ein in Folie eingepackter Batzen Plastiksprengstoff an, die sich regelrecht
in die Ritzen zwischen den größeren Waffen gedrängelt hatten.
Die Granaten wanderten in eine Gürteltasche, während es sich der Sprengstoff
in einer Manteltasche ausruhen dürfte. Als letztes Ausrüstungsstück
entfernte Sharon eines von Marks Messern samt Scheide aus dem Boden des Koffers
und befestigte es an dem Schulterhohlster der Flinte. Mit sichtlich besserer
Laune donnerte Sharon den vollständig entleerten Behälter in den Busch
und saß schon fast wieder hinter dem Lenkrad, als der Koffer auf dem Boden
aufschlug.
Im Aufschlaggebiet befand sich zu diesem Zeitpunkt eine Stubenfliege, die mit
Hilfe eines anderen Touristen dort angekommen war und nun dort still hockte.
Allerdings handelte es sich nicht um ein gewöhnliches Insekt, sondern um
eine genetische Kuriosität, eine Mutante sozusagen. Dieses Gliedertier
saugte Luft durch seine Tracheen, während sich in seinen hyperaktiven Nervenzellen
eine Art Gedanke formte - ein Gedanke, der in Worte gefasst über das normale
Vokabular einer Stubenfliege hinausging. Nicht nur ein vager Impuls zur Fortpflanzung,
zur Flucht oder zum Fressen. Nein, eine Frage, und zwar eine der wichtigsten
Fragen, die je ein Wesen (geschweige denn eine Fliege) je gestellt hatte. Nämlich
die Frage nach dem Sein, nach der Existenz, nach der Realität. Und dies
lief ab, während sich Teile des Nervensystems noch darüber wunderten,
warum die Facettenaugen auf einmal einen dunklen Himmel meldeten. Dann passierten
zwei Dinge fast gleichzeitig. Zunächst konnte die Fliege den Grundsatz
formulieren, dass sie aufgrund ihres Bewusstseins nachweisen konnte, dass sie
in der Wirklichkeit existierte; dass sie sei, da sie dachte. Während die
Fliege noch darüber sinnierte, wie sie diese überraschend befreiende
Erkenntnis an ihre Artgenossen, an ihre Artverwandten, ja vielleicht sogar an
alle Insekten weitergeben könnte, wurde der Himmel schwarz. Obwohl es sich
hier nur um eine relativistische Betrachtung handelt - korrekter wäre es,
zu behaupten, dass für die Fliege der Himmel schwarz wurde. Der unabhängige
Beobachter stellte hingegen fest, dass das abgelenkte Insekt von dem Metallkoffer
zu Brei zermatscht wurde.
Dieser gesamte Vorgang hätte gravierende Folgen für das Selbstverständnis
aller potentiellen Flecke auf der Sportseite der Zeitung gehabt, wenn nur irgendjemand
davon erfahren hätte.
Auch Sharon hatte von diesem existenzialistischen Drama nichts bemerkt und
bewegte sich stattdessen mit einem beängstigend großen Betrag an
kinetischer Energie über das asphaltierte, von Steuern finanzierte und
unter der direkten Verantwortung des souveränen Nationalstaates Südafrikas
stehende Transportnetz, auch bekannt als Straße. Auf dem Weg zu ihrem
ersten Ziel dachte sie noch einmal an die Szene mit dem Vergewaltiger zurück.
Der Gedanke an den Tod dieses Menschen schien sie zu amüsieren. Allerdings
wurde ihr kurz danach klar, das sie erst einmal ein paar Menschen retten müsste,
um hinterher weiter in deren Genpool aufzuräumen. Der Logik folgend müsste
sie dazu ein Siegel sichern, welches sie zunächst finden müsste. Also
spann sich der Faden weiter - jemand musste davon wissen. Wenn jemand davon
wusste, würde er sicher auch versuchen, es unter seine Kontrolle zu bringen.
Das würde wiederum bedeuten, dass jemand anders etwas davon wissen würde,
wie die erste hypothetische Person das Siegel suchte. Und bei einem Besuch dieser
zweiten hypothetischen Person in einer Bar müssten dies jetzt eigentlich
eine ganze Menge Kneipengänger wissen. Natürlich basierte diese Strecke
von wilden Schlussfolgerungen auf noch wilderen Spekulationen, aber da sich
ihr Fahrzeug gerade an einer Raststätte am Straßenrand (sofern man
die Strecke als Straße bezeichnen konnte oder wollte) näherte, wäre
es ja kein großer Zeitverlust, sich einmal umzuhören.
So kam sie zu einer doch relativ logischen Rechtfertigung dafür, sich
dort mit ein paar Truckern die grauen Zellen abtöten zu lassen.
Mit dem Betreten der Lokalität entschied sich Sharon dafür, dass
hier mal wieder mit der rauen Tour etwas zu erreichen wäre. Ihr Blick fiel
auf den vermeintlichen Rädelsführer des örtlichen Lederjackenkults,
ein abgrundtief hässlicher, aber stämmiger Mann mit integralem Rettungsring
und einem waschechten Dreijahrebart. In ihrer gewohnt ruhigen, aber bestimmten
Art näherte sie sich dem gleichsam lachenden wie ahnungslosen Opfer und
bezog ruhig ihre Position, während er auf sie aufmerksam wurde und sie
musterte.
"Was gibt's?"
"Ich suche eine Art archäologische Ausgrabung in der Nähe. Geht
dir ein Licht auf?"
"Bei mir geht höchstens mal die Hose auf - für ne Ausgrabung
an meinem Fossil!"
Das reichte von Seiten des Bikers einerseits, um das gesamte Lokal zum Lachen
zu bringen, andererseits aber auch, um sich einen heftigen Schlag auf die Leber
einzufangen, was das Lokal wieder zum Schweigen brachte.
"Lauscher auf, Mistkäfer, ich hab keine Zeit für Scherze. Weißt
du, wo was steigt, oder muss ich dich durchkneten, bis es dir einfällt?"
Die linke Faust des Bikers näherte sich ihrem Sternum mit beachtlicher
Geschwindigkeit, musste jedoch feststellen, dass sie nicht das alleinige Recht
auf Bewegung gepachtet hatte. Analog dazu setzte Sharons rechte Hand einen Kurs
zum Hals ihres Opponenten und gewann das Tauziehen der Agilität mit deutlichem
Vorsprung. Die Finger verschränkten sich nun um das Doppelkinn ihres Zieles,
und mit einiger Unterstützung von Muskelfasern im Arm, Rücken und
den Beinen des Dämons wurde der Mann in die Luft gestemmt. Gleichzeitig
glitt die rechte Hand der Kuttenträgerin in ihren Mantel. Als der Rest
der Meute eingreifen wollte, starrte man nur noch in den Lauf von Sharons Flinte.
"Raus damit, sonst presse ich euch das Mark aus den Knochen!"
Sharon musste sich nicht umdrehen, um zu hören, wie jemand hinter ihr
versuchte, leise eine Schrotflinte durchzuladen. Je nach Betrachtungsweise erwies
es sich als glücklicher beziehungsweise unglücklicher Umstand, dass
ihre Reaktionszeiten und Reflexe die Leistungen der meisten Menschen mit ausreichendem
Abstand übertrafen. Während der Geschäftsführer hinter ihr
noch versuchte, den Lauf seiner Waffe in die grobe Richtung des schwarz gekleideten
Tornados vor sich zu richten, hatte sie bereits den Biker vor sich gestoßen
und ihre Flinte über die Schulter dieses unfreiwilligen Schutzschildes
gelegt. In so einer Situation hätte Mark vielleicht mit einer lahmen Bemerkung
die Situation entschärft, aber als Dämon interessierte man sich nicht
für Deeskalation. Fast zeitgleich machten sich zwei Ladungen Schrot in
Entgegengesetzter Richtung durch die stickige Atmosphäre; eine zauberte
eine faszinierende Vielzahl kleiner, blutiger Löcher in die Brust des Barmanns,
während sich aus einem vergleichbaren Muster von Wunden mit durchaus bemerkenswerter
Geschwindigkeit im Rhythmus der schwächer werdenden Herzschläge Blut
in die Lederjacke des Bikers ergoss. Zu diesem Zeitpunkt befand sich dieser
jedoch bereits wieder auf den Weg zum gelinde ausgedrückt dreckigen Boden;
Sharon jedenfalls rotierte auf einer Fußspitze und warf sich dann rückwärts
über die Bar, kam in einer geradezu unglaublichen Rolle wieder auf die
Beine und stand dann relativ nahe an der ersten Leiche, die Flinte auf das gleichfalls
erschütterte wie erstaunte Publikum gerichtet.
"So, jetzt will ich ein paar Antworten."
Sie repetierte die heiße Hülse in ein Rinnsal hochprozentigen Alkohols
auf der Bar, der prompt Feuer fing.
"Sonst gebe ich noch eine Runde aus."
Als sie wenige Minuten später die Bar verließ, beschwerte sie sich
lautstark über die mangelnde Kooperationsbereitschaft des durchschnittlichen
Kneipengängers. Bei einer Inspektion ihrer Stiefel stellte sie fest, dass
sich blutiger Sand in den Rillen der Sohlen festgesetzt hatte. Sie fluchte erneut,
steckte dann ihre Flinte weg und machte sich auf den Weg zu ihrem Wagen.
Hinter ihr verwandelte sich der Gastronomiebetrieb in eine beachtlich laute
Explosion.
Auf dem Weg zu ihrem ersten Ziel - dessen Ort sie einem der Barinsassen aus
dem Leib gequetscht hatte, und zwar wörtlich - versuchte sie sich vorzustellen,
wie Mark die Situation wohl gelöst hätte. Vermutlich hätte er
wieder viel zu viele Zeugen hinterlassen. Vermutlich hätte er sie auch
dafür zur Verantwortung gezogen, dass sie die Menschen getötet habe,
die er retten wollte. Er. Sie stellte sich vor, ihn anzulächeln, ein viel
sagendes, aber letztendlich unergründliches Lächeln. Wie sie ihm zuwerfen
würde, dass sie die ganze Welt retten, nicht nur die Menschen. Dass man
dabei auch Opfer bringen (und schaffen) musste. Und dass seine neu gefundene
Aversion gegen das Töten nicht nur kontraproduktiv, sondern auch masochistisch
wäre. Dann würde er ihr irgendwas Schwammiges über Menschlichkeit
entgegnen.
Er war nützlich, sicher, aber philosophisch eine einzige Katastrophe.
Dunkel war's, als ihr Wagen einen halben Kilometer vor ihrem Ziel stoppte.
Sharon sah sich genötigt, diesmal etwas leiser vorzugehen. Sie entfernte
die Sonnenbrille von ihren Augen und musste sich ein paar Minuten Zeit nehmen,
um wieder etwas zu sehen - nach ihrem Geschmack gab es hier schon fast wieder
genug Licht, um einen Dämon ernsthaft zu blenden. Sie bedachte den Vollmond
mit leisem Fluch, packte ihre Ausrüstung zusammen und machte sich auf den
Weg. Die Sicherheitsmaßnahmen um die Ausgrabung waren lächerlich,
da es kaum welche gab. Jemand hatte sich hingesetzt und geplant, wie man Artefakte
vor einem Sandsturm schützen könnte. Die taktischen Implikationen
hatte niemand bedacht. Doch sie ließ sich nicht aus dem Konzept bringen,
blieb bei der Sache; man schwang sich über Zäune, wartete hinter Zelten
und lauschte dem Herzschlag der Menschen um sich. Schlussendlich stand sie vor
einer der größeren Gruben und wagte den Sprung in die Tiefe.
Unten erblickte sie das Siegel sowie einen kleinwüchsigen Mann, der es
mit einer Art Pinsel bedachte. Sie schien er nicht wahrzunehmen, und so näherte
sich Sharon, um einen besseren Blick zu erheischen. Unabhängig von der
Frage seines Platzes in der hiesigen Hierarchie war der Pinselführer kein
Fest für die Augen. Er trug zerschlissene Jeans und einen staubigen, grau-roten
Pullover. Nach einigen Sekunden fiel ihm schließlich auf, dass jemand
hinter ihm stand.
"Wer ist da?"
Als Antwort hörte er das Spannen des Hahns an Sharons Colt.
"Jemand, dem du gerade im Weg bist. Keine Faxen, sonst verteile ich deine
Kindheitserinnerungen an die Skorpione."
Er wich zur Seite, machte Platz für sie am Siegel, das von mehreren Standscheinwerfern
geradezu penibel übertrieben beleuchtet wurde, so, als wollte es sagen,
dass der Verantwortliche dafür in Hollywood an mehreren Abenteuerfilmen
mitgearbeitet hatte. Sie betrachtete den Stein vor sich, fühlte seine Aura
und las die Inschriften.
"Wer sind sie? Was soll das alles?"
Sie richtete ihre Waffe auf ihn, was er mit einem Ausdruck gesteigerter Panik
(so sich Panik denn noch steigern lässt) quittierte.
"Ich will noch nicht sterben!"
"Tja, Kleiner, Überraschung: Ich auch nicht, und deshalb bin ich hier.
Leider gibt's da einen kleinen Unterschied zwischen uns beiden."
Er starrte sie verwirrt an.
"Und dieser Unterscheid wäre?"
"Mein Wunsch geht in Erfüllung."
Womit sich wieder einmal ein Mitglied des Ensembles dieser Geschichte mit einem
Knall, einem blöden Gesichtsausdruck und einer Riesensauerei aus dieser
Welt verabschiedete. Erwartungsgemäß heulte wenig später eine
Sirene. Allerdings überraschte Sharon, dass bereits Schüsse fielen
- und zwar nicht auf sie gerichtet. Über den Krach dieses Desasters hörte
sie jemanden brüllen.
"Die Armee ! Alle zu den Waffen !"
Sharon warf einen kurzen Blick auf ihr letztes Opfer, dann lauschte sie für
ein paar Sekunden dem Stakkato von Gewehrsalven um sie herum. Schließlich
steckte sie den Colt weg, brachte ihr G36 in Feuerbereitschaft, zog eine Schachtel
aus ihrem Mantel und steckte sich eine Zigarette an.
"Das wird ne lange Nacht."
Von Gatac
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