Kapitel 4 - Vorstellungsgespräch
„Hey,
das hab ich nie gesagt.“
Es war ein
langer, langer Weg nach Lissabon. Mark fragte sich mehrmals, warum
sie ihn nicht einfach als Fracht am Flughafenzoll vorbeigeschmuggelt
hatten. Diese Frage kam ihm ungefähr zweimal pro Kilometer, so
dass er beim Erreichen der Stadtgrenze von Portugals Hauptstadt so
extrem sauer war, dass er die Schmerzen in seinem Bein nicht mehr
spürte. Dies wurde ihm sofort bewusst, und darauf folgte die
Feststellung, dass es gar keinen Schmerz in seinem Bein gab, den es
zu ignorieren galt. Einige Sekunden später gab er die
Schmerzempfindung in seiner Schulter wieder frei, was ebenfalls nicht
mit einem Schrei quittiert wurde.
Nun ja, er
hatte schon immer wenig Zeit im Krankenbett verbracht, aber das war
langsam lächerlich.
Mark
setzte sich kurz an den Straßenrand und fasste einige seiner
Beobachtungen zusammen. Seit diesem Job im Lagerhaus war irgendwie
alles aus dem Ruder gelaufen. So, als hätte jemand mitten im
Spiel die Regeln geändert, um Mark gewinnen zu lassen. Das
beunruhigte den Killer ungemein; solange er nicht wusste, woher der
Aufwind kam, konnte er auch nicht wissen, wann ihn die Schwerkraft
des Schicksals wieder einholen würde. Untypischerweise versank
er so tief in diesem Gedanken, dass er die Annäherung eines
Einheimischen erst bemerkte, als dieser ihn ansprach.
„Brauchen
sie Hilfe?“
„Ich
spreche kein Portugiesisch.“
Der
Einheimische schüttelte den Kopf und entfernte sich aus dem
Sonnenstich-verursachenden Panorama, während Mark langsam
dämmerte, dass er Portugiesisch sprach, was ihn sofort wieder zu
der Frage nach dem „Was?“ brachte.
Die
Realität war ein Witz, und anscheinend war er die Pointe.
Mark
stellte fest, das europäische Vorstädte mit ihren
amerikanischen Brüdern nicht zu vergleichen waren; hier wirkte
alles sehr organisch, wie über Jahrhunderte gewachsen, während
man in Marks Heimat im Wesentlichen etwa zwanzig Quadratkilometer in
einer einzigen riesigen Welle von Beton und Kunstrasen bedecken
konnte, ohne dass jemand mit der Wimper zuckte. Irgendwie gefiel ihm
die Variante seines Heimatlandes besser; vielleicht lag es auch
einfach nur daran, dass Mark als New Yorker an die exzessive
Sonneneinstrahlung eher schlecht angepasst war.
Mark griff
in seine Hosentasche und zog einen kleinen Zettel heraus; die Adresse
seines ersten Phantombildes. Er schaute sich kurz um, dann hob er die
Tragetasche wieder über seine Schultern und machte sich auf den
Weg. Die Vorbereitungen würden einige Stunden dauern...
Als die
Sonne sich schließlich wieder ihre Überstunden
aufschreiben ließ und hinter dem Horizont ein kühles Pils
schlürfte, bewegte sich Mark fast völlig lautlos über
das eher schlecht als recht gesicherte Studiogelände an der
Stadtgrenze. Man mochte ja über Profikiller denken, was man
wollte, aber Mark hatte ein gewisses Talent dafür, selbst in den
unmöglichsten Gegenden Kontakte zu den richtige Leuten zu
knüpfen und über selbige Personen Ausrüstung zu
organisieren. Seine Reisekasse hatte eine weitere Breitseite
abbekommen und dabei auf wundersame Weise kein Leck geschlagen; der
Verlust an Finanzmitteln bis zu diesem Zeitpunkt war zwar
schmerzlich, aber einige anfängliche Investitionen zur
Wiederherstellung der operativen Bereitschaft waren nach einer
Verlegung des Operationsgebietes unumgänglich.
Außerdem
hatte Mark die neue Sonnenbrille wirklich nötig gehabt.
Wenden wir
uns erneut den Sicherheitsmaßnahmen zu. Hätte man Mark
Geld dafür angeboten, den Komplex zu infiltrieren, hätte er
den Auftraggeber in spe vermutlich aus Stolz erschossen; verdammt,
die Jungs waren so inkompetent, dass Mark locker zwei Schachteln
Zigaretten auf einmal hätte rauchen können, ohne entdeckt
zu werden. Das Ganze war ein ziemliches Trauerspiel, und Mark fühlte
sich, als würde er winzig kleine Hundewelpen treten. Bewußtlose
Welpen. Ohne Beine.
Schließlich
erreichte er einen Wohnwagen, auf dessen Tür stolz ein kleines,
goldfarbenes Sternchen mit den eingravierten Schriftzug „R.
Santiago“ klebte. Mark ging noch einmal kurz in sich, dann
klopfte er an die Tür.
Raphael
fand sich einige Sekunden später auf Kusshöhe mit einer
Mündung wieder. Erschrocken wich der Schauspieler zurück;
wenn das ein Gag der Produktionsleitung sein sollte, war es nicht
besonders lustig.
„Mr.
Santiago?“
„Wer
sind sie?“
„Simmons.“
Raphael
starrte weiter in die Mündung.
„Scheisse.
Das wars dann wohl.“
Niemand
konnte genau erklären, was in diesem Moment geschah, aber Mark
schien wie erstarrt, als er diese Worte hörte. Verblüfft
senkte er die Pistole; Raphael war sich unsicher, was hier abging,
aber der Typ vor ihm wirkte ziemlich verrückt, und damit war
seine Bereitschaft zu plötzlichen Bewegungen minimal. Plötzlich
schaute ihm der Killer direkt in die Augen.
„Ich
glaube, wir kennen uns.“
„Das
bezweifele ich.“
„Ich
weiß, das klingt verrückt.“
„Da
gebe ich Ihnen recht.“
„Ich
bin mir nicht sicher...da war ein Licht, und dann...Azuriel?“
Damit war
der Augenblick für Raphael gekommen, sich dem Wahnsinn
anzuschließen. Bilder durchfluteten seinen Schädel,
wuschen die Insel namens Santiago hinfort und hinterließen
dafür einen neuen Kontinent voller Erinnerungen. Einen
Augenblick war ihm danach, sein Mittagessen im nächsten
Mülleimer erneut zu inspizieren, aber das Gefühl der
Überkeit verflog mit dem Schleier, der sich über seine
Seele gelegt hatte. Immense Energien durchflossen ihn erneut, und
innerhalb weniger Sekunden war er wieder Azuriel – nun ja,
zumindest größtenteils.
„Heilige
Scheisse.“
Mark
wunderte sich in der Zwischenzeit nur darüber, ob er vielleicht
nicht doch eine Kugel spendieren sollte; immerhin hatte er jetzt ja
genug...
„Mark?“
„Woher
kennen sie meinen Namen?“
„Woher
kennst du mein Gesicht? Und meinen Namen, wenn wir schon dabei sind?
Hey, du hast Recht, woher kenne ich deinen Namen? Das ist ziemlich
abgefahren.“
„OK.
Nochmal auf Zeitlupe. Wer bist du?“
„Wie
du bereits sagtest, bin ich Azuriel, Engel des Herrn.“
„Ah.“
„Und
du bist...der Paladin.“
„Ach
ne. Und was heißt das?“
„Das
heißt...dass wir beide bis zum Haaransatz in der brühenden
Kacke stecken. Wir sind spät dran.“
„Womit?“
„Damit,
die Welt zu retten! Mein Gott, du schaltest nicht besonders schnell,
oder?“
„Würde
es dir etwas ausmachen, wenn ich mich hinsetze und durchdrehe?“
„Heb
dir das bitte für später auf. Wir müssen hier weg. Ich
muss meine Auftraggeber kontaktieren. Hier ist irgendetwas verdammt
schief gelaufen.“
Mark
nickte und setzte sich auf eine Stuhl, während Az damit begann,
einen Koffer zu packen. Jetzt, mehr als je zuvor, brauchte Mark Aaron
Simmons ein Bier. Auf dem Weg nach draußen war ihm sogar etwas
schlecht, denn jetzt war ihm endgültig bewusst, dass ihm einige
Erinnerungen abhanden gekommen waren. Die Situation war frustrierend,
weil sich der Typ, nach dem er gesucht hatte – Azuriel –
anscheinend an sehr viel mehr erinnerte. Das Universum versuchte,
diese Ungerechtigkeit auszugleichen, indem es den Engel wie einen
Wahnsinnigen vor sich hin reden ließ.
„So
ein verdammter Mist. Die kriegen da oben auch absolut gar nichts
richtig gebacken. Ich meine, welchen Tag haben wir heute? Wir sind
schon eine ganze Woche zu spät. Das ist ein absolut unhaltbarer
Zustand. Den Leuten werde ich demnächst aber mal ordentlich die
Meinung geigen...“
Hinter
ihnen explodierte der Wohnwagen. Azuriel fuhr herum, offensichtlich
geschockt, während Mark einfach stehenblieb und seine begrenzte
geistige Flexibilität daruaf verwendete, zu akzeptieren, dass er
gerade mit einem Engel in Portugal unterwegs war, um die Welt zu
retten. Wovor, eigentlich? Mark zuckte innerlich mit den Schultern.
Immer der gleiche Mist. Niemals sagen einem die Auftraggeber, worum
es eigentlich geht...
„Scheiss,
Scheisse, Scheisse! Der Wohnwagen! Mark, der Wohnwagen ist gerade
explodiert.“
„Natürlich.
Viele Dinge explodieren, wenn man eine Ladung C1 an ihnen befestigt
und den Zünder betätigt.“
„Du
hast meine Wohnung gesprengt!“
„Ich
habe den Sicherheitsdienst abgelenkt und eine Erklärung für
dein Verschwinden geliefert.“
„Ich...“
Der Engel
starrte ihn an.
„Verdammt
noch mal. Musstest du dazu etwas in die Luft sprengen?“
„Vermutlich
nicht, aber ich komme so selten dazu.“
Azuriel
schüttelte seinen Kopf, aber er lächelte.
„Dann
wird die Apokalypse wenigstens nicht langweilig.“
Von Gatac
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