Kapitel 3 - Anhalter
„Fresse
runter, Daumen hoch. Ganz einfach.“
Mark hatte
nicht gefragt, wie er in Lissabon das Flugzeug verlassen würde.
Als er einen starken Ruck spürte und sich die Kiste um ihn herum
in ihre Einzelteile zerlegte, wurde Mark auf einmal schlagartig klar,
dass er sich im freien Fall befand und dass sein Beharren auf der
Tragegurt-basierten Variante der Maschinenpistolenmitführung
eine richtig, richtig schlechte Idee war. Durch die Schutzbrille und
die leichte Wolkendecke unter ihm ortete Mark etwas, dass selbst in
der Dunkelheit relativ einfach zu erkennen war.
Die
Atlantikküste.
Mark
reflektierte mit einem trommelfellerschütternden „SCHEISSE!“
auf diese Entwicklung; wenigstens bewahrte er genügend
Geistesgegenwart, die Reißleine zu lösen, während
seine Sauerstoffmaske den Schall schluckte. Ungewisse
Sekundenbruchteile vergingen, in denen Marks Fantasie auf Hochtouren
arbeitete und sich vorzustellen versuchte, wie inelastisch Wasser
beim einem Aufprall aus dieser Höhe reagieren würde.
Dann gab
es einen Ruck nach oben, die MP5SD3 gab sich dank mangelhalfter
Verzurrung weiterhin dem freien Fall hin, und Mark spürte diesen
sensationellen Schmerz, mit dem ihm Mutter Natur signalisierte, dass
er sich zwar seine Schultern nicht ausgekugelt hatte, aber beim
nächsten Fallschirmsprung verdammt noch einmal die Gurte richtig
anlegen sollte.
Nach
einigen Sekunden zur Reorientierung und einigen Versuchen gelang es
Mark, den Kurs seines Falls etwas zu korrigieren und auf den
nicht-nassen Anteil dieser Küstenregion zuzusteuern. Diese
Meisterleistung beruhte alleine auf Marks doch beachtlichen
physischen Kondition; mit der richtigen Technik hätte er es
vielleicht auch geschafft, ohne innerhalb von dreizehn Minuten den
gesamten Verlauf eines Muskelkaters in beiden Armen zu erleben. Die
Lichter an der Küste Portugals sahen ganz passabel aus; von dem
Flugzeug sah Mark aufgrund des schlechten Wetters nichts mehr, aber
anscheinend hatte der kleine Frachtabwurf es nicht zum Absturz
gebracht. Denn den Feuerball hätte er garantiert gesehen...
In dem
Maße, wie sich Mark dem Boden näherte, wuchs auch seine
Neugier darauf, ob wohl die Landung besser funktionieren würde
als der Rest des Sprunges. Mit abnehmender Höhe konnte er seine
Fallgeschwindigkeit recht gut einschätzen und kam zu dem
Schluss, dass er erneut einige Blessuren einstecken würde, aber
als er einen Olivenbaum auf sich zusehen kam, wusste Mark, dass er
heute vermutlich nicht mehr sterben würde.
Zwei
Minuten nach Mitternacht legte Mark die bei erfahrenen
Fallschirmspringern geächtete Fünfpunktlandung – Fuß,
Knie, Kopf, Kopf, Kopf – mit intuitiver Professionalität
hin. Der Fallschirm war nun endgültig ruiniert, und so
verbrachte Mark einige Minuten damit, sich aus dem Geschirr zu
schneiden, bevor die Seile und der Schirm Gelegenheit hatten, sich im
Wind zu fangen und den Killer zu erwürgen. Als es schließlich
vollbracht war, flatterte das Geschirr (und die Hälfte von Marks
Bargeld, die er unglücklicherweise daran befestigt hatte) über
die Landschaft und verschwand in der Dunkelheit. Mark überprüfte
seine Situation. Positiv bewertete er, dass er auf den ersten Blick
keine Körperteile vermisste; andererseits waren seine Arme und
sein Rücken eine einzige, hocheffiziente Schmerzfabrik, eine
Schnittwunde an seinem Kopf ruinierte mit kleinen Tropfen Blut sein
Lieblingssweatshirt, und er hatte nicht nur eine Waffe, sondern auch
beachtliche Proportionen seiner Reisekasse im wahrsten Sinne des
Wortes in den Wind geschossen.
Nach
einigen Schritten schaltete sich Marks Gehirn von Leerlauf wieder auf
normale Arbeitsgeschwindigkeit; ihm wurde klar, dass er eine große
Tragetasche durch die Pampa zog und dabei eine ziemlich amüsante
Spur hinterließ. Jetzt schaltete auch der Teil seines
Verstandes, der ihm mitteilte, dass er immer noch mit Sauerstoffmaske
und Neoprenanzug durch die Gegend lief. Einige Minuten später
war dieses Problem jedoch gelöst; der Kleidungsbatzen in der
Tasche lieferte Jeans, Wanderstiefel und ein weißes,
kurzärmliges Hemd sowie einen Cowboyhut, den Mark nach kurzer
Inspektion als absolut peinlich einstufte und wieder zurück in
die Tasche zwischen ein paar Batzen Geld und mehrere halbautomatische
Waffen stopfte.
Warum also
saß Mark eine halbe Stunde später als Anhalter in einem
Mietwagen mit einem angetrunkenen Touristen?
Eigentlich
hatte sich Mark vorgenommen, den Weg in die nächste Stadt zu Fuß
zurückzulegen; er hatte gerade eine ziemlich traumatische erste
Flugreise hinter sich und wollte die Götter des
Personentransportes nicht noch weiter unnötig erzürnen.
Dann hatte er es gesehen; naja, eigentlich eher gehört, denn in
der völligen, idyllischen Stille der landschaftlich sehr
erquicklichen Gegend passte die wild bibbernde Technobrühe in
etwa so gut in das Gesamtbild wie Schlaghosen und Rüschenhemden
in die abendliche Opernaufführung. (Es sei denn, man bevorzugte
sehr, sehr seltsame Opern, aber über solche komplexen
Zusammenhänge machte sich diese kleine Analogie keine Gedanken –
dafür gab es ja schließlich die Gewerkschaft.) Der Bass
hatte Mark knappe drei Minuten verfolgt, bevor er das Auto auch nur
sah; dem schäbigen Aussehen nach zu urteilen erreichte das
Fahrzeug seinen derzeitigen Schallpegel nur durch maximales Aufdrehen
der internen Stereoanlage, was genügend Strom abzwackte, um die
Geschwindigkeit des Autos zu halbieren – ein schmerzlicher
Verlust von rund 7 Km/h. Natürlich zeigte sich hier die
mangelnde Qualität der Anlage im oberen Leistungsbereich
besonders deutlich. Der Klang war einfach nur noch grauenhaft und
hatte vermutlich mit dem eigentlich als Hörerlebnis
veranschlagten Notensequenzen auf dem gemarterten Datenträger
nicht mehr viel gemein; ob dies allerdings eine massive
Verschlechterung oder einfach nur eine Transformation von einer Art
der sonischen Boshaftigkeit in eine andere darstellte, konnte Mark
nicht beurteilen. Glücklicherweise hatten die Jahrzehnte der
Schusswaffennutzung ihre Spuren an seinem Hörvermögen
hinterlassen, und so wurde er von dem wirklich fiesen Pfeifen bei
etwa 19 Kilohertz verschont.
Als der
Wagen anhielt und der Fahrer seinen Kopf ausstreckte, war er Mark
gerade sympatisch genug, ihn nur krankenhausreif schlagen zu wollen,
aber der Killer bremste seine aufgestaute Wut und machte gute Miene
zum weniger guten Spiel.
„Hey,
sie! Wollen sie irgendwohin? Kann ich sie mitnehmen?“
Mark
sortierte die verschiedenen ihm bekannten Dialekte von Englisch und
kam zu dem Schluss, dass der Mann A) Südengländer und B)
vollkommen und absolut betrunken war.
„Klar.
Warum nicht?“
Mark stieg
in den Wagen, und es folgte das allseits beliebte Straßentheaterstück
„Ein kurzer Ausflug in die Hölle“, mit der
Glanzbesetzung von Guy Behrend als „Die Nervensäge“
und Mark Aaron Simmons als „Das hilflose Opfer“. Die
ganze Vorstellung dauerte etwa eine halbe Stunde, und schloss mit
einem grandiosen Finale via Einschusslöchern im Heckfenster, ein
improvisiertes Element ohne Erwähnung im Programmheft. Während
Guy Behrend alles gab, seinen Leihwagen auf der Strasse zu halten,
feuerte Mark eine vernichtende Rezension Kaliber .45 in die
Dunkelheit, was dann der Korditoperette anscheinend ein Ende machte.
Nur wenige Sekunden später war alles wieder normal – nun
ja, davon abgesehen, dass Mark die Pistole in seiner rechten Hand
offen zeigte und Guy mit fortschreitender Sekunde immer besorgter
wurde.
„Sind
sie Geheimagent oder so was?“
„Anhalten.“
„Was?“
Mark
richtete die Pistole auf seinen Fahrer.
„Anhalten.“
Man muss
Guy hoch anrechnen, dass er bereits bei der ersten Wiederholung
sofort in die Eisen stieg und anschließend innerhalb weniger
Sekunden durch die geöffnete Fahrzeugtür in die finstere
portugiesische Nacht entschwand – damit rettete er zunächst
sein Leben. Mark steckte die Pistole wieder weg und gab Gas; die
vulkanisierte Gummimischung zwischen Felgen und Asphalt kreischte für
einige Sekundenbruchteile, als der Mietwagen einen halben Millimeter
Profil auf der Straße ließ. Einige weitere Schüsse
verfolgten ihn; eine Kugel pfiff so nahe an Mark vorbei, dass er
meinte, die Spuren der Züge auf ihrer Oberfläche zählen
zu können.
Dann
hörten die Schüsse auf; der Augenblick der Erleichterung
wurde dadurch ruiniert, dass ein ziemlich großer Geländewagen
unbestimmbarer Marke auf die Straße drängte und versuchte,
Marks fahrbaren Untersatz von eben dieser und dabei Mark von seinem
Lebensfunken zu befreien. Die Jagd war eröffnet.
Mark hatte
zu diesem Zeitpunkt ein Problem – sein Wagen war einfach zu
nichts zu gebrauchen. Er war nicht schnell genug, um einfach
davonzufahren, und nicht groß genug, um einen Nahkampf zu
überstehen. Dies wurde beindruckenderweise dadurch demonstriert,
dass der Geländewagen Marks Fahrzeug von hinten rammte und sich
dabei so tief in den Kofferraum grub, dass man ab diesem Zeitpunkt
eigentlich nur noch vom Geländewagen und seinem Kühlerschmuck
reden konnte. Und dann, genau dann, schrillte irgendwo ein Wecker,
die Gesetze der Physik machten Mittagspause, und Mark setzte zu eine
absoluten Glanzleistung an.
Zwei
Kugeln entließen das geschwächte Dach des Kleinwagens in
die Nacht und transformierten den Schrotthaufen in einen
Schrotthaufen mit Sommerverdeck. Mit einem gewaltigen Satz schraubte
sich ein Haufen schwarzer Klamotten mit einem Paar automatischen
Pistolen nach oben; Feuer blitzte aus zwei Mündungen und
zerschmetterte die Fenster des Geländewagens. Der Wagen scherte
zur Seite; in einer Demonstration von Reaktionsvermögen ergriff
Mark die Karosserie des Wagens, während die Seitenbeschleunigung
seine Füße von der Motorhaube riss. Der Fahrer überwand
seine Schmerzen gerade lange genug, um den Wagen wieder zu
stabilisieren; ein kurzer Blick zur Seite zeigte ihm Mark, der trotz
des Fahrtwindes immer noch mit einer Hand an der B-Säule hing.
Unter Aufbietung sämtlicher Kraftreserven richtete der Killer
die Pistole in seiner freien Hand auf den Fahrer and drückte ab.
Die
resultierende Kollision mit der Landschaft war, unter diesem Aspekt
betrachtet, vermutlich nicht zu verhindern.
Mark fand
sich zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde stöhnend auf der
Erde wieder. Diesmal dauerte es etwas länger, wieder
aufzustehen; seine schöne neue Kleidung war zerfetzt, und
mehrere blutige Striemen zogen sich über seinen Körper.
Nach einem Schritt wurde ihm bewusst, dass sein rechtes Bein
zumindest gezerrt, wenn nicht sogar gebrochen war, aber für
solche Feinheiten hatte er jetzt keine Zeit. Erst musste er noch
etwas beenden.
Eigentlich
war Johnathan O’Malley schon tot. Die drei .45 Projektile in
seinem Schädel, die innerhalb weniger Sekunden der sowieso schon
beeindruckenden Bleibestückung der Jetzt-Leiche hinzugefügt
wurden, konnten daran auch nichts mehr ändern, machten jedoch
Marks Ärger deutlich und die ganze Situation etwas eindeutiger.
Im Hemd
der Leiche fand sich eine Geldbörse, etwas Bargeld, ein
(schlecht gefälschter) Reisepass sowie ein Foto von Mark, was
diesen dazu veranlasste, der bereits ordentlich gefledderten Leiche
noch einen zusätzlichen Kopfschuss zu verpassen.
Während
Mark weiter in Richtung der nächsten Stadt wankte, erhellte das
Mondlicht die Unfallstelle. Das Auto explodierte nicht, aber es
brannte ziemlich gut.
Von Gatac
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