Teil 1 – Der letzte Sonnenuntergang
„Wenn
du morgen noch lebst, wäre ich sehr beeindruckt.“
Die Waldbrände
sorgten für die richtige Atmosphäre.
Die
Hubschrauber überflogen das Areal frisch gerodeter freier
Fläche, verbrannte Erde, ein sich in den Regenwald fressendes
Geschwür. Unter den stählernen Libellen, mit ihrer
Titanpanzerung und Rotorflügeln aus honigwabenartig eingesetzten
Verbundwerkstoffen, bewegten sich die Menschen wie ein zitternder
Haufen Ameisen ohne Königin, scheinbar planlos inmitten dieser
prometheischen Horrorvision, und Mark beobachtete alles durch das
kleine Fenster an der Tür seines Transportmittels. Entfernt
schallte die Stimme des Piloten durch die Kopfhörer und
übertönte den noch ferneren Donner der Maschinen.
„Als wir den
Tempel gefunden haben, war uns klar, dass wir die von ihnen
veranschlagte Aktion nicht im Dschungel durchführen konnten.
Alles, was sie unter uns sehen, ist frisch. Die Jungs stellen sofort
überall Zelte auf, wo sich der Boden wieder abgekühlt hat.
Wenn sie denken, dass das jetzt schon böse aussieht, warten sie
mal, bis die Bulldozer heute Abend eintreffen. Schlafen nur mit
Gehörschutz.“
„Klingt, als wäre
alles straff organisiert.“
„Wir haben
tausende Soldaten da unten. Die brauchen eine gute Führung.“
Die Stimme des Piloten
senkte sich, wurde nachdenklicher.
„Sie werden uns in
Bestform brauchen, wenn es wirklich losgeht.“
„Was halten sie
von der Sache?“
„Für
uns drei Sekunden, sie noch eine extra, weil sie ja den ganzen
mystischen Kram in ihrem Körper haben. Ich persönlich denke
ja eher, dass wir die ganze Gegend hier gründlich einebnen
sollten, aber der Rat hat auf sie gehört. Wäre
unprofessionell, das zu untergraben.“
„Da sind sie wohl
nicht der einzige, der so denkt. Aber es wird schon schief gehen.“
„Genau das
beunruhigt mich – dass der Plan von ihnen ist, und womöglich
sogar noch funktioniert. Denken sie mal drüber nach, damit
würden sie die Validität unserer gesamten Organisation
untergraben.“
„Und was wäre
so schlimm daran?“
„Nachdenken, Jung!
Die bezahlen mich.“
Das Lachen
klang irgendwie hohl, aber Mark hatte den Galgenhumor zu seiner
eigenen Kunstform erkoren und lächelte unsichtbar in die
Dämmerung hinein, während die fliegende Banane zur Landung
ansetzte.
Auf dem
Boden ließ Mark die Begrüßung durch mehrere
hochrangige Offiziere wortlos über sich ergehen; mit sichtlichem
Unwohlsein durchquerte er und seine eher schäbig wirkende Clique
Reihen ordentlicher, ihm salutierender Soldaten, bevor er endlich
etwas Ruhe in ihrem geräumigen Zelt fand. Auf einem
improvisierten Schreibtisch las er einige Notizen; offensichtlich
hatte bereits jemand die taktische Organisation der Eingreiftruppe
erledigt und ihm damit einen Haufen Arbeit erspart. Unter normalen
Umständen hätte Mark wohl den Urheber gesucht und ihm
gedankt; unter den momentanen Konditionen hielt er es für
angebrachter, sofort tief schlafend auf dem nächsten Feldbett
zusammenzubrechen. Seine Begleiterinnen begutachteten den schlafenden
Krieger mit einem gemeinsamen Lächeln, dann legten sie sich
ebenfalls auf die Ohren.
Marks Magen weckte ihn
pünktlich zum aus Kampfrationen gekochten Abendessen.
Sofort nach
dem Abendessen zog sich Mark wieder in sein Zelt zurück,
inspizierte sein Feldbett, und kam zu der Entscheidung; die drei
darauf befindlichen Gegenstände in der Reihenfolge ihrer
Höhenschichtung zu untersuchen. Dies führte ihn
logischerweise zunächst zu der oben liegenden Notiz.
Die Jungs haben mir
den Schmöker gegeben. Dachte, der interessiert dich vielleicht.
Wenn nicht, haben wir noch ein wenig mehr Brennstoff für das
Fegefeuer.
Sharon
Der nächste
Gegenstand war dann besagtes Buch; Mark schätzte es auf ein
Entstehungsdatum im späten 19. Jahrhundert, womit er sich um
etwa 30 Jahre irrte, und begann die Lektüre. Auf den ersten
Blick schienen die im Text genannten historischen Ereignisse nicht
besonders interessant, aber der Autor hatte sich Mühe gegeben,
bestimmte Personen herauszustellen, die auf besondere – wenn
auch oft nicht unmittelbar sichtbare – Weise in die
Geschehnisse eingriffen. Wirklich interessiert wurde Mark jedoch
erst, als er die erste Illustration sah, die kolorierte Reproduktion
eines mittelalterlichen Holzschnittes. Dieser fügte sich in
keinster Weise in einen der Mark bekannten altertümlichen
Kunststile ein, sondern schien eher eine Art Fotografie zu sein, die
man dann mühsam auf primitivere Darstellungsformen reduziert
hatte. Das Motiv zeigte einen Ritter, der seine glänzend-silberne
Rüstung unter einem schwarzen Umhang versteckte; seinen Helm
schmückte eine Art Kreuz, welches in die Gesichtspanzerung
integriert seltsam zu leuchten schien. Und die Augen – war da
ein rötlicher Schein, der sie umgab?
Am auffälligsten
war jedoch das Kristallschwert in seiner Hand, und Mark wurde klar,
das er seinem Vorfahren in die Augen sah.
Hastig
überflog er den Rest des Buches, auf der Suche nach weiteren
Bildern, und er wurde fündig. Der Anzug schien sich den Moden
der Zeit anzupassen, zwar nie wieder so komplex wie die Rüstung,
aber immer mit den gleichen stilistischen Merkmalen. Das Buch endete
mit einer Bleistiftzeichnung eines weiteren Kämpfers in der
Uniform einer Mark unbekannten Streitmacht; anhand der Ausrüstung
urteilte er jedoch, dass der Mann aus der Epoche des ersten
Weltkriegs stammen müsste – und er war der einzige, der
das Schwert nicht zu führen schien. Naturgemäß fand
sich nichts Aktuelleres in der Abhandlung, und Mark warf den Band
leicht frustriert zur Seite, denn die wenigen brauchbaren Mutmaßungen
des Autors konnte er aus eigenem Wissensstand zurückweisen. Als
Letztes betrachtete er nun eine Schatulle, die seinen Namen in einer
anachronistisch verschnörkelten Schrift trug. Ihr einziger
Inhalt schien eine einfache Stoffmaske zu sein, bestickt mit dem
weißen Kreuz und der roten Hervorhebung um die Augen.
„Ich
hab es kommen sehen. Nein, ehrlich, das war klar. Nicht mal beim
Sterben lässt einen die Familie in Ruhe.“
Er hielt
die Maske in der Hand, betrachtete sie eindringlich. Sie war mehr als
bloßer Stoff, auch ohne heilige Magie oder exotische
Polymerpanzerung. Sie war ein Symbol für das, in das er sich
verwandelt hatte. Mark Aaron Simmons, den Auftragskiller mit dem
bösen Grinsen, gab es nicht mehr; an seiner Stelle stand ein
anderer Mensch, stärker, weiser, weniger naiv – und
weniger frei. Er hatte nun ein Ziel, das ihn band, ein Auftrag, eine
Mission – ein Kreuzzug. Nein, er war nicht gestorben, sondern
wiedergeboren. Geboren, um denen, die das Geschenk des Lebens
missbrauchten, selbiges wieder abzunehmen. Geboren, um das Urteil zu
vollstrecken.
Er setzte die
Sonnenbrille ab und zog sich die Maske über den Kopf.
Er betrachtete sich
selbst im Spiegel. Die Maske ließ sein Gesicht schmaler
erscheinen, schlanker, schneller, gefährlicher. Nichts entging
dem eindringlichen Blick seiner künstlichen Augen. Er
beobachtete nur, ohne einen Mund zu sprechen oder Ohren, den Klagen
zu lauschen. Er sah nur das Leid, den Schmerz, die Ungerechtigkeit,
gegen die er zu Felde zog. Ja, die Maske passte ihm gut. Als er
hinter sich eine Bewegung hörte, drehte er sich reflexartig um;
Chrome erstarrte beim Anblick des neuen Kämpfers.
„Herr im Himmel…“
„Wisse, wer vor
dir steht.“
Er trat näher an
sie heran.
„Wisse, dass ich
Reaper bin.“
Er starrte sie an,
während sie immer weiter zurückwich. Dann zog er den Stoff
wieder aus seinem Gesicht und grinste sie an.
„Kommt sicher geil
beim nächsten Bewerbungsgespräch.“
„Ja, klar.“
Sie lachte mit ihm, aber
in seinen Augen sah sie, dass seine schlagfertige Bemerkung die wahre
Maske war.
Er
begleitete sie vor den Eingang des Zeltes, wo sich bereits eine
stattliche Anzahl uniformierter Gestalten eingefunden hatte. Mark
beäugte sie mit dem Misstrauen, das er allen Leuten in Uniform
aus einer verwirrend großen Anzahl von Gründen
entgegenbrachte – schließlich hatte es fast jede Uniform
tragende Organisation geschafft, sich bei ihm unbeliebt zu machen,
was auch vor den pickligen Teilzeitkräften bei Mcdonald’s
nicht Halt machte. Das diese Subgruppierung schwer bewaffnet war und
vor nicht allzu langer Zeit noch seine Eliminierung als Tagesziel
angesetzte hatte, trug nicht gerade zu seiner Beruhigung bei, aber am
nervösesten machte ihn der Tatumstand, dass sie ihn anscheinend
als Vorgesetzten akzeptierten. Ein Mann trat aus der Formation aus
und salutierte ihm; Mark besann sich darauf, die Zusammenarbeit nicht
zu gefährden und grüßte zurück. Der Soldat
senkte seine Hand und nahm eine Grundstellung ein, während er
mit fester Stimme sprach.
„Die Truppführer
des 3. und 4. Regiments melden sich zur Einsatzbesprechung, Sir.“
„In wiefern wurde
die Organisation bereits vorgenommen?“
„Wir
haben eine vorläufige Strategie erstellt. Das Ziel dieser
Versammlung ist es, sie über unsere Pläne in Kenntnis zu
setzen, und sie im Bedarfsfall nach ihren Vorstellungen
auszurichten.“
Marks Stimme klang
resigniert und leise gegen die völlige soldatische Überzeugung
seines Gegenübers.
„Klingt nicht so,
als wenn sie mich dabei auch brauchen. Schicken sie mir ein Memo.“
„Aber…“
„Was?“
„Bitte um
Erlaubnis, offen sprechen zu dürfen.“
„Spucken sie’s
aus.“
„Wir sind
Soldaten. Wir wurden bei den verschiedenen Armeen der Welt
ausgebildet, bevor wir rekrutiert wurden. Wir sind erfahren im Umgang
mit Waffen, mit infanteristische Verhalten, mit Überleben in
offener Natur, mit Häuserkampf…“
„Lassen sie mich
raten: Ich bin hier der Einzige, der schon mal einen Dämonen
über den Jordan geschickt hat.“
„Das entspricht
den Tatsachen, Sir.“
„Dann schaffen sie
mal ein paar ihrer Dienstvorschriften her.“
„Wollen sie
Parallelen zur Bekämpfung gepanzerter Fahrzeuge erläutern?“
„Nie
im Leben. Aber mit dem ganzen Papier und ein paar von den gefällten
Bäumen können wir ein schönes Lagerfeuer für
meine Pfadfindergeschichten basteln.“
Kaum zu
glauben, aber mit einigen Ordern voller leicht brennbarer Merkblätter
und Requirierungsformularen ließ sich tatsächlich ein Stoß
des unter Naturschutz gestellten Tropenholzes entzünden; die
Anleitungen zum Stiefelputz brannten besonders hell und heiß.
Mark betrachtete das Feuer mit einem Grinsen (und sinnierte darüber,
wie er dem entscheidenden Funken etwas nachgeholfen hatte), dann
drehte er sich zu Sharon.
„Hol unsere
Feindesliste raus und setz Greenpeace drauf.“
„Mit
dem ganzen illegalen Holzschlag hier könnte man viel Geld
verdienen.“
„Und was würdest
du davon kaufen?“
Sharon dachte kurz nach,
dann antwortete sie mit einer lakonischen Reinterpretation von Marks
Manierismus.
„Waffen. Jede
Menge Waffen.“
„Verdammt, das
musstest du vorm Ende der Welt noch mal sagen, oder?“
Vor dem
Paar Schwarzkuttenträgern schlichen die letzten Sonnenstrahlen
über den dampfenden Boden, während der Leben spendende
Feuerball, dieser riesige Kernfusionsreaktor genannt Sonne, hinter
dem sichtbaren Horizont verschwand, und das letzte Bisschen Licht aus
dem Dschungel wich. Mark zog die Maske aus seiner Tasche und wog den
Stoff in seiner rechten Hand, knetete das Material, als könnte
es ihm einfach aus der Hand fließen und damit für immer
verschwinden. In ihm regte sich ein Teil seines Wesens, zu dem er
erst seit seiner Wiederauferstehung Zugang hatte, und flüsterte
ihm die Erfahrungen und Erinnerungen seiner Vorgänger ein,
während sich der zunehmend bedrohlicher wirkende Wald im Wind um
sie herum wiegte. Ohne langes Nachdenken zog Mark die Maske über
sein Gesicht, fühlte den Stoff mit seiner Haut verschmelzen, und
starrte in die auf einmal sternenhelle Nacht. Nachdem er vorher die
Existenz irgendwelcher Technologie oder Magie in der Maske
ausgeschlossen hatte, reagierte Mark doch etwas verblüfft, zwang
sich dann aber, den Effekt einfach hinzunehmen. Neben sich hörte
er Sharon aufschrecken, drehte sich zu ihr, und sah sie ihn mit
angsterfülltem Gesicht anstarren.
„Du weißt
es.“
„Weiß was?“
„Du trägst
die Maske. Und ich hatte gedacht, du würdest sie ablehnen.“
„Das lag nicht in
meiner Macht. Diese Identität ist Teil meines Geistes.“
Mark schüttelte
kurz den Kopf, als wolle er drei Kilo Sand aus seinem Haar entfernen.
„Was quatsche ich
da eigentlich?“
„Ich
dachte, du wärst helle genug, es zu merken. Das ist kein
einfacher Stofffetzen mit weißer und roter Farbe. Die Maske ist
ein Symbol für einen Teil von dir, der die gesamte Blutlinie
durchzieht, und mit jedem neuen Wirt wird sie stärker. Sicher,
sie ändert ihr Aussehen, aber das ist unerheblich für ihre
Funktion. Jedem deiner Vorgänger zeigte sie sich kurz vor ihrer
entscheidenden Schlacht, und so gingen sie alle in die Geschichte
ein, nicht mehr als Individuen, sondern nur als jeweilige
Reinkarnation des Reapers. Deswegen habe ich dir das Buch gebracht.
Du solltest aus dem Text merken, dass sie dir nur Verderben bringt!“
„Skorpion.“
„Was?“
„Vergiss es. Ich
kann nicht gegen meine Natur handeln.“
„Das tust du schon
die ganze Zeit. Jedes Mal, wenn du Mitleid hast. Jedes Mal, wenn du
den Abzug nicht durchziehst. Jedes Mal, wenn du darüber
nachdenkst, was du tust.“
Nach kurzem Zögern
entfernte Mark die Maske, wobei sie sich nur zögernd von seiner
Haut löste. Er betrachtete das Stück Stoff erneut, und ihm
schien es, als ob die vorher strahlenden Farben langsam verblassten,
bis sie wieder ihre ursprüngliche Mattheit annahmen.
„Und jedes Mal,
wenn ich die Maske ablege und einfach nur ich bin?“
„Und wer ist
dieser ominöse echte Mark, von dem du sprichst?“
Seine rechte Hand strich
durch ihr Haar, fühlte die Verknotungen der ungepflegten Frisur
und die schuppige Robustheit ihrer übermenschlich harten Haut.
„Der
Teil von mir, der bereit ist, an deiner Seite bis zum Ende zu
kämpfen.“
Während
er noch überlegte, was er durch Tragen der Maske wissen sollte,
drehte sie sich wieder in die Sonne und nahm die Sonnenbrille aus
ihrem Gesicht. Er sah, wie sich hauchdünne Häutchen über
die enthüllten Augen legten, aber für den Bruchteil einer
Sekunde konnte er ihre natürliche blutrote Iris sehen. Dann
öffneten sich die Häutchen wieder, und sie starrte kurz in
das Abendrot, bevor sie mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenbrach.
Er half ihr wieder auf, und von der Sonne abgewandt setzte sie die
Brille wieder auf, darauf wartend, dass sich ihre Sehkraft wieder
einstellte. Als er sie fragend ansah, grinste sie trotz der Pein
zurück.
„Der
Teil von mir, der noch einmal wissen wollte, wie die Sonne aussieht.“
Hinter dem Paar
Schwarzkuttenträgern fanden einige Soldaten heraus, wie Avenger
aussah, und ihre akustischen Kommentare rangen Mark das letzte
Lächeln des Tages ab.
Von Gatac
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