Über die Jahrhunderte hat sich das, was wir als Religion
verstehen, verändert. Eines war jedoch immer Bestandteil der Religion.
Der Versuch die Welt zu erklären. Irgendwann muß wohl jemand
um sich gesehen haben; mit nur einer Frage im Kopf: ""Wo kommt das
alles her ?" Natürlich waren die Menschen niemals mächtig genug,
um ihre Welt selbst zu schaffen. Es mußten also mächtigere
Wesen sein. Wenn sie mächtiger waren, waren sie dann auch unsterblich
? Oder gab es unter ihnen Tote ? Können Götter sterben ? Und
wo kommen sie überhaupt her ? Die Quintessenz der Antworten auf diese
Fragen bildete die Religion. In der Antike war Vielgötterei verbreitet;
man ging jedoch auch von der Erklärung durch Mythen ab und suchte
eine Erklärung, die alleine der Vernunft entspringt. Über Jahrhunderte
stritten sich die Menschen über ihren Glauben. Heute, wo die eine
Seite den göttergleichen Wissenschaftlern glaubt und die Welt als
Formel sieht, während die anderen wie nie zuvor an ein höheres
Wesen glauben, stellt sich die Frage, wer richtig glaubt. Wohl niemand
und trotzdem alle. Erwarten wir Hilfe von denen, an die wir glauben ?
Schulden sie uns nicht etwas ? Der Gedanke der Errettung durch die Macht,
die die Welt geschaffen hat, ist und bleibt weitverbreitet.
Was passiert, wenn sich das, woran wir glauben, gegen uns wendet ?
Teil 1 Boden der Tatsachen
"Das Dumme am Boden der Tatsachen ist, dass man, auch wenn man schon
angekommen ist, immer noch tiefer fallen kann."
Mark wachte auf.
Die Sonne stach in seinen Augen und erhellte die schwarzen Ringe unter
ihnen; seine Knochen schmerzten, und seine Muskel verkrampften sich. Er
fühlte sich, als als ob er tot wäre. Nicht der Tod, den er
erlebt hatte. Ein unbarmherziger, qualvoller Tod. Wie er ihn verdient
hätte. Die Reste von Alkohol hinterließen ein Klingeln in seinem
Schädel. Seine Augäpfel fühlten sich...komisch an. Als
wenn sie jeden Moment aus ihren Höhlen herausfallen könnten.
Mark richtete sich mit viel Mühe auf und durchsuchte die Umgebung
nach Gefahrenquellen. Niemand. Nichts. Keine Dämonen, die mit albtraumhaften
Klauen nach ihm schlagen würden; keine Menschen, die auf ihn schießen
würden. Einfach niemand. Traumhaft. Die Ruhe jedoch erschien Mark
tückisch; wie ein Skorpion, eingegraben im Wüstensand und regungslos
seit Monaten trotzdem jederzeit bereit, zuzuschlagen. Mark dachte über
den gestrigen Tag nach. Gestern. Gestern war alles besser. Gestern, war
er Paladin, hatte eine Partnerin. Heute ? Heute war er ein abgebrannter
Vollidiot, der seine Partnerin im Stich gelassen hatte, kurz, ein absoluter
Versager, der die gesamte Menschheit auf dem Gewissen hatte.
Die Melancholie wurde vom Klingeln seines Handys unterbrochen. Mark fischte
mit einiger Mühe das Telefon aus seiner Manteltasche und klappte
die Abdeckung nach unten. Das Display zeigte in einwandfreier Darstellung
die Nummer des Anrufers.
0.0.0.
Mark traf mit seinem Daumen grob eine grüne Taste und nahm das Gespräch
an. Azuriels gehetzte Stimme unterbrach ihn, bevor er auch nur ans Sprechen
dachte.
"Bist dus, Mark ? Gut. Sag nichts, hör nur zu, die Leitung
wird garantiert angepeilt. Ich weiß was passiert ist, und ich wäre
verdammt froh, wenn ich wüßte, was hier oben abgeht ! Hier
tickt die Bombe, und ich will nicht dabei sein, wenn die hochgeht. Ich
weiß, du hast einen Kater wie nach ?ner Barnacht; die haben dir
den Hahn zugedreht. Deine Kräfte sowie die heiligen Waffen sind unbrauchbar.
Das Schwert kann ich mit Kraft versorgen, aber die USPs kannst du verschrotten.
Ich hab dir eine Kreditkarte zukommen lassen, mit Zugriff auf ein Konto
was ich mir für schlechte Zeiten mal angelegt hatte. Kauf dir Munition,
und zwar massig; du wirst das Zeug brauchen. Übrigens, die Sache
mit London steht noch; organisiere dir ´ne Schiffsreise von New York aus,
bei "PP Cruises"; da wirst du nicht durch ?nen Metalldetektor
geschleust. Viel Glück, du wirst es brauchen. Ich versuch inzwischen
herauszufinden, welches Spiel hier mit uns gespielt wird. Die Sache stinkt
mächtig. Vertraue niemandem."
Wieder einmal rauschte nur noch der ohmsche Widerstand durch die Leitung.
Mark klappte das Handy zu und setzte sich auf den nächsten Stein.
Azuriel hatte ihm die Kurzfassung von dem erzählt, was sich Mark
in seinem Kopf zusammengereimt hatte. Er war noch nie so müde gewesen
wie gestern; aber er wußte, womit man die Situation vergleichen
könnte. Mit einem Drogensüchtigen, der abrupt aufhört.
Die Macht war wie eine Droge, ungelogen. Und Mark war diesbezüglich
auf hartem Entzug.
Er stand wieder auf und wanderte um seinen Rastplatz herum; in Gedanken
tiefer versunken als seine Stiefel im Sand. Welche Prioritäten würde
er sich selbst setzen ? Erstmal mußte er sich wieder bewaffnen,
klar; aber sollte er an seiner Mission festhalten ? Wieso riskierte er
sein Leben überhaupt für diese überheblichen Schwuchteln,
die sich selbst Engel schimpften ? Und wieso zum Teufel hatten sie ihn
genommen ? Er war nun wirklich kein Heiliger; er hatte Sonntags seine
Stunden in den Wäldern verbracht und mit seinem Vater gejagt, anstatt
mit seiner Mutter in die Kirche zu gehen. Er hatte einmal sogar eine Bibel
zerrissen, jede Seite einzeln. Vater. Sein Vater. Der hatte ihn verstanden,
wenn er keine Lust darauf hatte, ein paar Stunden in einem ordentlichen
Anzug irgendwo herumzusitzen und alle paar Minuten "Amen !"
zu sagen. Sein Vater hatte ihm interessantere Dinge beigebracht. Zum Beispiel,
wie man eine Jagdgewehr bedient. Wie man ein Visier einstellt. Oder wie
man Tretminen entschärft. Alles Dinge, die Mark das Leben mehrmals
gerettet hatten. Was hatte Gott für ihn getan ? Ihn zur Belohnung
für seine lästerliche Lebensweise wieder zurückgeschickt
und ihm dann, als er sich mächtig fühlte, einen fetten Tritt
in den Hintern gegeben ?
Mark besann sich zurück auf seinen Vater. Ja, das war sein Held.
Jemand, der vor keiner Kneipenschlägerei zurückschreckte. Jemand,
der, wie es seine Nachbarn ausdrückten, "mit dem Maul so schnell
wie mit der Flinte ist." Stark. Geschickt. Und immer für eine
Überraschung gut. Bis zu seinem letzten Atemzug hatte er stärker
als der Tod gewirkt; er war sogar noch einen Tag davor im Wald gewesen,
um Holz zu schlagen. Am nächsten Morgen wachte er dann nicht mehr
auf; seine Mutter hatte Mark erzählt, er sei friedlich eingeschlafen.
Mark hatte es kaum glauben wollen. Er hatte seine Sachen gepackt und war
dann am nächsten Tag schon auf dem Weg in die große Stadt,
nach New York. Dort war er eine Zeitlang einfach nur ein Streuner, dann
fand er seine Bestimmung als Söldner. Für den Job war er einfach
perfekt. Er war gerade mal 17, sah noch jünger aus und verstand etwas
davon, ungefährlich zu wirken. Trotzdem war er Profi. Der Kunde war
König, und der Kunde bestimmte die Todesart. Ob eine Geburtstagstorte
aus Plastiksprengstoff oder ein einfacher Kopfschuß aus einem halben
Kilometer Entfernung solange die Bezahlung stimmte, war Mark dabei.
Für diesen Job hatte man ihn leben lassen. Nicht der erste Job dieser
Art. Wohl aber der erste, bei dem der Kunde nach der Auftragsbesprechung
noch lebte. Mark hatte schon immer die Idioten gehaßt, die dachten,
das er zu erpressen sei; er hatte sie bisher alle abserviert. Aber diesmal
hatte er sich förmlich erpressen lassen; diesmal hatte er es eigentlich
fast freiwillig getan. Alles nur die Frage der Perspektive. Natürlich
hatte er bei den anderen Jobs noch gelebt, als ihm das Angebot unterbreitet
wurde; ob das allerdings erheblich für die Betrachtung war, bezweifelte
er. Er schaute auf sich selbst herunter. Er lebte doch noch, oder ?
Ja.
Der Job gefiel ihm, und er würde ihn verdammt noch mal erledigen.
Er hatte seine Versprechen nie gebrochen. Er würde das Schiff nehmen.
Er würde London ausräuchern. Er würde Sharon finden. Er
würde sich seine Kräfte zurückholen. Er würde in ein
paar fette Ärsche treten. Er würde zusammen mit Azuriel gegen
die Mächte von Himmel und Hölle antreten. Er würde...nix
da, zuerst würde er sich ausrüsten.
Beginn den Tag nicht ohne frische Munition.
Mit ein paar schnellen Handgriffen rollte Mark, von Ehrgeiz beflügelt,
seinen Schlafsack zusammen und verstaute seine Habseligkeiten in der Seitentasche
des Motorrads. Mit einem reflexartigen Fußtritt heulte der Motor
auf, fast wie ein Schwein auf der Schlachtbank. Mark würde ihn nicht
schonen. Er gab seinem Roß die Sporen und raste durch die Wüste,
vorbei an Schildern, Reklametafeln oder kleinen Raststätten. Erst
an einer Tankstelle hielt er an; zwar war ihm nicht endgültig klar,
ob sein Fahrzeug jetzt wohl Benzin benötigen würde, aber in
seiner Situation waren Risiken etwas, dass er sich nicht leisten konnte.
Er tankte voll, dann betrat er die kleine Bude, die sich Geschäft
schimpfte. Der Mief der Trostlosigkeit und Resignation hatte sich über
alle Regale und Vitrinen gelegt; in ihnen verschimmelten langsam die verschiedensten
Dinge, von Rasierklingen zu Gummibärchen. Die Preisschilder schienen
wohl schon seit mehreren Jahren von Änderungen verschont geblieben
zu sein; sie zeigten Preise, wie sie Mark aus den späten Sechzigern
in Erinnerung hatte. Hinter der Kasse saß ein Mann mit tiefen Falten
und fahlgrauem Haar; gekleidet in einen alten dreckigen Overall. Während
Mark auf ihn zuschritt, fiel ihm ein winziges Detail auf.
An der Wand hing ein kleines Kruzifix.
Mark setzte ein wohlwollendes Lächeln auf und ließ seine Fingerspitzen
leise auf den Tresen klopfen; die ungeteilte Aufmerksamkeit des Tankstellenbesitzers
wurde ihm zuteil.
"Ja ?"
"Ich hab bei Säule 4 getankt. Nehmen sie Kreditkarten ?"
"Bargeld ist mir lieber, aber so ?nen neumodischen Kartenleser hab
ich auch."
Mark reichte ihm die Kreditkarte, die Azuriel mit einem letzten Quentchen
himmlischer Macht neben ihm deponiert hatte, und wartete einen Moment.
"Die Karte ist OK, sonst noch was ?"
"Hm...nun ja...sie wissen nicht zufällig, wo hier in der Nähe
ein Waffengeschäft ist ?"
"Wozu brauchen sie denn eins ?"
Mark folgerte aus dem Blick des Mannes, das er jetzt besser seine Fähigkeiten
im Bereich kreative Dichtung anwenden sollte.
"Ich fahre zu einem Wettschießen. Ich hab aber meine normale
Munition bei mir in der Wohnung vergessen und bloß Übungsmunition
dabei, mit der ich natürlich nicht teilnehmen kann."
"Tja, wenn sie es keinem sagen, kann ich ihnen auch etwas verkaufen...Was
brauchen sie denn ?"
".50er Action Express, 10mm Auto sowie .308er Winchester."
"Also nein...So etwas hab ich nicht auf Lager. Da müssen sie
schon in die Stadt für."
"Trotzdem danke."
Mark drehte sich um und begann seinen Weg nach draußen.
"Jungchen ?" Der Alte hatte wieder gesprochen. Mark blieb stehen
und wendete seinen Kopf.
"Ja ?"
"Paß auf dich auf. Du riechst nach Ärger, und meine Nase
hat sich noch nie geirrt."
"Danke für den Rat."
Weg. Einfach nur weg. Bevor der Typ ihn noch mal anlabert. Mit einem
eleganten Schwung sattelte Mark wieder auf und setzte seinen Weg fort.
Irgend etwas hatte ihm an dem Laden nicht gefallen. Noch konnte er es
nicht definieren. Aber irgend etwas war einfach gigantisch faul an der
Sache, ob es an diesem Verkäufer, den Preisschildern oder dem Kruzifix
lag.
Bei längerem Verweilen wäre Mark die Schrotflinte unter dem
Tresen, sein Steckbrief im Hinterzimmer oder der Telefonanruf bei der
Polizei aufgefallen.
Von Gatac
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