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Twilight




Vorwort
Bei meiner Warstory "Twilight" handelt es sich nicht um ein komplett von mir verfasstes Werk, sondern um eine Neubearbeitung der Kurzgeschichte "Sniper" von Liam O'Flaherty.
Die Idee, Handlung sowie ein kleiner Teil der Ausformulierung stammen von O'Flaherty. Ich selbst habe die Geschichte nur übersetzt, in eine andere Zeit übertragen und etwas verändert.
Ich hoffe, dass ich dem grandiosen Original gerecht geworden bin.
Wer Lust hat das Original zu lesen kann dies auf http://mbhs.bergtraum.k12.ny.us/cybereng/shorts/sniper.html tun.
Danken möchte in an dieser Stelle noch meiner Testleserin Tina, die meine Geschichte Dudenkonform gemacht hat.
Job

 

 

Twilight

Die Sonne ging am Horizont unter. Grosny, die Hauptstadt Tschetscheniens, wurde in Dunkelheit getaucht. Es war ein kühler Abend, der Wind blies von den hohen Gipfeln des Kaukasus den Frost in die Stadt. Zwischen zerschossenen Gebäuden und Hochhäusern ohne Fassaden lag drückende Kälte. Die Straße war von Trümmern freigeräumt worden, damit die gepanzerten Fahrzeuge der Armee und Sonderpolizei OMON sie passieren konnten. Obwohl es fast schon dunkel war, gingen in den Fenstern keine Lichter an. Die Menschen, die noch immer in dieser Trümmerwüste ausharrten, hatten Angst vor Repressalien der russischen Armee oder Überfällen der Rebellen. Raub, Entführungen und Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Moskau war fern und keinen interessierte es, welche Methoden die Soldaten benutzten um sich Respekt zu verschaffen.
Irgendwo in den Hügeln um die Stadt röhrten die schweren Waffen. Hier und da unterbrachen Maschinengewehrsalven die Stille der Nacht. Niemand kümmerte sich darum. Seit Jahren war es jede Nacht dasselbe. Man wusste nicht, wer da schoss. Sonderpolizei, die Häuser durchsuchte, russische Soldaten, die angetrunken auf ihre eigenen Schatten zielten oder Rebellen, denen es gelungen war einen Hinterhalt zu legen. Man würde es nie erfahren.

Auf einem zerschossenen Hausdach südlich des Sunzha-Flusses lag ein tschetschenischer Scharfschütze auf der Lauer. Neben ihm lehnte sein Gewehr vom Typ SVD und um den Hals trug er ein Fernglas. Er hatte das bleiche Gesicht eines Studenten, hager und ohne den verräterischen Bart der Mujaheddin. Er war noch jung aber in seinen Augen loderte bereits ein fanatisches Feuer. Sie waren tief und gedankenverloren, die Augen eines Mannes, der viel nachdachte.
Hungrig aß er ein belegtes Brot. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr gegessen, denn er war zu aufgeregt gewesen um etwas runter zu bekommen. Er schob sich das letzte Stück Brot und Rinderwurst auf einmal in den Mund und spülte es mit einem Schuss würzigen Schnaps hinunter. Alkoholgenuss verstieß zwar eigentlich gegen seine Religion, aber Tschetschenien lag eben näher an Russland als an Mekka. Als er die Feldflasche wieder in seiner Tasche verstaute, überlegte er, ob er es riskieren sollte, eine Zigarette zu rauchen. Es war gefährlich. Der kleine Lichtpunkt konnte in der Dunkelheit über Hunderte von Metern gesehen werden. Er entschied, das Risiko auf sich zu nehmen.

Nachdem er die Zigarette zwischen seine Lippen gesteckt hatte, riss er ein Streichholz an und inhalierte wenig später den beruhigenden Rauch. Dann ließ er das Streichholz fallen und trat es mit der Schuhspitze aus. Fast im selben Moment riss eine Kugel Putz und Splitter aus dem Schornstein an dem er lehnte. Der Scharfschütze nahm noch einen kräftigen Zug und schnippte die Zigarette weg. Dann schwor er sich, mit dem Rauchen aufzuhören und kroch in Deckung.

Nach einer Weile richtete er sich vorsichtig wieder auf und spähte über den Rand des Schornsteins. Es blitzte und eine Kugel flog pfeifend über seinen Kopf. Er warf sich sofort wieder auf den Boden. Er hatte das Mündungsfeuer gesehen. Es kam von der anderen Straßenseite.
Er packte sein Gewehr und kroch die Betondecke hinunter, wobei er auf das riesige, gezackte Loch Acht gab, das eine AT4 SAGOT Rakete hineingerissen hatte. Als er sein Ziel, die halb weggerissene Balustrade am Rande des Daches erreicht hatte, schob er sich langsam nach oben, bis seine Augen über die Mauer ragten. Er konnte nichts sehen, nur die Umrisse des gegenüberliegenden Hauses, die sich gegen den dunkelblauen Nachthimmel abhoben. Sein Feind hatte eine gute Deckung. Möglicherweise saß er ebenfalls schon den ganzen Tag da drüben und sie hatten bis jetzt nichts voneinander gemerkt.

Gerade in diesem Moment musste ein gepanzertes Fahrzeug auf Patrouille in die Straße einbiegen. Langsam fuhr das Fahrzeug die Straße hinauf und hielt sich dabei weit links. Schließlich stoppte der BRT-80 Panzerwagen auf der anderen Seite der Straße, 150 Meter weit weg.
Der Scharfschütze konnte das Brummen des laufenden Motors bis zu seinem Horst hier oben im Haus hören. Sein Herz schlug schneller. Er wollte schießen, wusste aber, dass es nutzlos war. Seine Kugeln konnten den mehreren Zentimeter dicken Stahlplatten des grün-braun lackierten Ungeheuers nichts anhaben.
Plötzlich kam eine alte Frau aus einer Seitenstraße. Ihre Haare waren von einem roten Kopftuch verdeckt und sie trug eine ebenfalls rote Plastiktüte. Sie war trotz der allgemeinen Ausgangssperre, die nach 8 Uhr abends in Kraft trat, noch draußen und näherte sich zügig dem Panzerwagen. Sie blieb neben ihm stehen und von hier oben sah es aus, als ob sie auf den Stahlkoloss einredete. Sie deutete dabei zum Hausdach hinauf, in dem der tschetschenische Scharfschütz lag. Ein Spitzel.

Die Turmklappe öffnete sich und der Kopf und die Schultern eines Mannes kamen hervor. Prüfend blickte er zu dem Dach hinauf und lud dabei, ohne auf seine Hände zu sehen, routiniert das montierte Maschinengewehr durch. Der Scharfschütze riss das Gewehr hoch, visierte kurz das Ziel an und drückte ab. Der Kopf des Soldaten schlug gegen den hochgeklappten Lukendeckel und der Körper rutschte zurück in die Öffnung. Die Frau rannte hastig mit ihren krummen Beinen die düstere Straße hinunter, wobei sie die Plastiktüte an ihren Busen drückte. Der Scharfschütze feuerte wieder. Die Frau wurde herumgerissen und flog mit einem lauten Aufschrei auf den Gehsteig.

Plötzlich ertönte vom gegenüberliegenden Dach ein Schuss und der Scharfschütze ließ sein Gewehr zuckend fallen. Klappernd blieb es auf dem Dach liegen. Der Rebellenkämpfer versuchte nicht es aufzuheben. Sein rechter Arm war taub.
"Inschallah! Ich bin getroffen!" kam es gepresst über seine Lippen.
Nachdem er sich flach auf den Boden geworfen hatte, kroch er zurück in Deckung, seine rechte Hand auf die Wunde gedrückt. Das Blut sickerte durch den Ärmel seines Mantels. Er spürte keinen Schmerz - nur das seltsame Gefühl als hätte man ihm den Arm abgeschnitten.

Schnell zog er das Taschenmesser aus seiner Tasche, öffnete es ungeschickte mit Hilfe der Mauerkante und schlitzte den Ärmel auf. Da war nur ein kleines Loch wo die Kugel eingetreten war. Die andere Seite seines Armes war jedoch eine einzige riesige Austrittswunde. Dem jungen Rebellen war klar, dass er, sollte er hier wieder lebend rauskommen, seinen Arm nie wieder so würde benützen können wie früher. Mit der linken Hand fischte er nach dem schäbigen Verbandspäckchen in seiner Umhängetasche. Er hatte keine Morphiumspritze, aber dafür irgendein billiges Schmerzmittel dubioser Herkunft, das er in einer unetikettierten Schachtel bekommen hatte. Er wollte es eigentlich nicht nehmen, er hatte Soldaten gesehen, die abhängig geworden waren, nachdem sie solche Mittel gegen die Schmerzen genommen hatten. Außerdem war die Wirkung fragwürdig. Aber als er schwitzend an der Mauer lehnte, sein Arm taub war und furchtbare Schmerzen seinen Körper durchfuhren, warf er seine Vorsätze über den Haufen und spritzte sich das Zeug in den Arm. Mit etwas Glück war die Spritze sogar neu und nicht zuvor schon gebraucht worden.
Wahrscheinlich bildete er es sich nur ein, aber der Schmerz ließ wenig später nach. Er entnahm der Umhängetasche ein Mullverband und wickelte ihn mit zur Hilfenahme der Zähne um die Wunde. Der Verband war sofort von Blut durchweicht und die Schmerzen waren wieder da. Ihm fiel ein, dass man ihnen beigebracht hatte, die Wunde zu desinfizieren. Aber er hatte kein Jod oder etwas Ähnliches.
Er stemmte sich mit den Füßen gegen die Balustrade und schaffte es die Schmerzen zu ignorieren. Unten auf der Straße war alles still. Der Panzerwagen hatte zurückgesetzt und war mit Höchstgeschwindigkeit davongefahren. Der Kopf des Maschinengewehrschützen hing dabei leblos aus der Luke. Der Körper der alten Frau lag reglos im Rinnstein.
Er und der andere Heckenschütze waren wieder allein.
Der Verletzte lag lange Zeit still da und plante seine Flucht. Wenn es hell wurde durfte er nicht mehr hier liegen. Sie würden ihn in das Militärlager der Stadt bringen, wo gefangene Rebellen in unterirdischen Zellen untergebracht waren. Man erzählte sich Schauergeschichten von den Dingen, die dort mit den Unglücklichen gemacht wurden.
Er musste weg, aber der feindliche Scharfschütze hielt ihm den Fluchtweg versperrt. Der Tschetschene musste diesen gottlosen Feind töten und er konnte mit nur einer Hand sein Gewehr nicht benützen. Er hatte nur eine Pistole. Aber sein Plan nahm langsam Gestalt an.
Mit der gesunden Linken nahm er seine Mütze ab und steckte sie auf den Lauf seines Gewehres. Dann schob er das Gewehr vorsichtig über den Rand des Mauerchens bis die Kopfbedeckung von der gegenüberliegenden Seite der Straße zu sehen war. Beinahe sofort kam die Antwort und eine Kugel zerfetzte den Schirm der Mütze. Der Scharfschütze ließ die Mütze auf die Straße fallen. Dann nahm er das Gewehr in der Mitte und ließ seine linke Hand leblos über die Dachkante hängen. Ein paar Augenblicke später ließ er auch das Gewehr los und sank auf dem Dach zusammen, seine Hand zog er hinterher.

Als er wieder unsichtbar hinter der Balustrade kauerte, kroch er schnell zur Ecke des Daches. Der uralte Trick hatte mal wieder funktioniert. Der andere Scharfschütze, der die Mütze und das Gewehr fallen gesehen hatte, dachte, dass er diesen Mann getötet hätte. Nun stand er aufrecht vor einer Reihe Schornsteine und sah zu ihm herüber. Sein Kopf war klar vom westlichen Nachthimmel abgehoben.
Der tschetschenische Kämpfer lachte und legte die Tokarev Pistole über den Rand der Mauer auf sein Ziel an. Die Distanz betrug ungefähr 60 Meter - ein schwieriger Schuss im trügerischen Zwielicht des Mondes, und sein rechter Arm schmerzte wie die Hölle. Er zielte sorgfältig. Während er seine Lippen zusammenpresste, atmete er tief durch die Nase ein und feuerte. Der geringe Rückstoß erschütterte zwar nur leicht seinen linken Arm, aber sein verletzter anderer Arm schmerzte trotzdem.
Dann, als er sich wieder gefasst hatte, sah er nach drüben und ihm entwich ein Freudenschrei.
Sein Feind war getroffen. Er taumelte über dem Dachrand, die Hände auf den Bauch gepresst, sein Körper von Krämpfen geschüttelt. Er versuchte das Gleichgewicht zu halten, kippte aber unaufhaltsam nach vorne.
Bei dem Versuch doch noch Halt zu finden, stieß er mit dem linken Schuh sein Gewehr über den Dachrand. Es drehte sich in der Luft, schlug gegen eine zerfetzte Markise und schepperte schließlich auf den Gehsteig.
Der sterbende Soldat stöhnte und fiel kopfüber nach vorne. Der Körper überschlug sich in der Luft und traf mit einem dumpfen "Plop" auf dem Boden auf. Dann war es ruhig.

Der Scharfschütze sah seinen Feind fallen und spürte, wie die Anspannung von ihm wich. Er verlor die Kampfeslust. Seine Knie gaben nach und er setzte sich auf den Boden. Verletzt und geschwächt von einem ganzen Tag Fasten und auf dem Dach Ausharren, klapperten seine Zähne. Er verfluchte den anderen Scharfschützen, den Krieg und sich selbst. Dann begann er laut zu Allah zu beten und dankte ihm, dass er noch am Leben war.
Als der Blick auf die Pistole in seiner Hand fiel, atmete er tief ein und warf sie in das große Loch, das die russische Rakete in das Dach gerissen hatte. Als die Waffe auf den Boden des darrunterliegenden Zimmers fiel, ging sie los. Der Knall ließ die Luft erzittern. Der Schock half aber dem Scharfschützen wieder klar im Kopf zu werden. Seine Nerven beruhigten sich. Er schüttelte die Angst aus seinem Kopf und zwang sich zu einem Lachen.
Dann nahm er seine Feldflasche und leerte sie in einem Zug. Sein Geist übernahm wieder die Kontrolle. Er entschloss sich, das Dach zu verlassen und seinem Kommandanten Bericht zu erstatten. Also kroch er nach unten in das oberste Stockwerk des Hauses, wo er nach seiner Pistole suchte und sie schließlich auch fand.
Als er in eine Seitengasse trat, fühlte er plötzlich, dass er nicht einfach so gehen konnte. Er musste nach vorne zur Straße. Er musste den Feind sehen, den er getötet hatte. Er war ein guter Schütze gewesen, wer auch immer er war. Er entschied sich hinzugehen. Vielleicht hatte er ihn sogar schon mal gesehen. Vielleicht war es sogar einer der Soldaten die ihn als Knabe niedergeschlagen und seine Schwester vergewaltigt hatten. Er wünschte es zu tiefst.
Von Norden bog er in die namenlose Straße ein. Der Mond war inzwischen aufgegangen und tauchte die Straße in ein gespenstisches Licht. Seinen Arm spürte der Scharfschütze gar nicht mehr, das machte wohl die Kombination aus Schmerzmitteln und Alkohol, die gleichzeitig auch seinen Geist beruhigte.
Der russische Scharfschütze lag verkrümmt auf der Straße. Er drehte ihn um und sah ein fremdes Gesicht mit blondem Haar und Dreitagebart. Unbefriedigt stand er wieder auf und ging die Straße hinunter. Als er auf Höhe der toten alten Frau war, zerfetzte Motorengedröhn die Stille. Der Panzerwagen war mit Verstärkung zurückgekommen. Sie bogen von beiden Seiten in die Straße ein und eröffneten sofort das MG-Feuer. Der Scharfschütze entkam den tödlichen Geschossgarben und ließ sich neben der alten Frau zu Boden fallen. Der MG-Schütze unterbrach das Feuer.

Der Scharfschütze drückte sich eng an den erkalteten Körper der Frau und stellte sich tot. Sein gepresster Atem blies die grauen Strähnen beiseite, die aus dem verrutschten Kopftuch der Frau hingen. Schleichend kam ihm die grausame Erkenntnis, dass er in das Gesicht seiner eigenen Mutter blickte.


Von Job

 

copyright by www.jaggedalliance.de - Stand: 12.06.2002