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Paladin - Zyklus 4: Allianzen




Die Menschen arbeiten immer auf ihren eigenen Vorteil hin. Nach dem Sturz der Religion kam das Zeitalter der Wirtschaft - einige wurden reich, viele wurden arm, und mit Schrecken musste man erkennen, dass sich nichts geändert hatte. Der Reichtum hatte sich umverteilt, aber im Großen und Ganzen hatte das für die Mehrheit der Menschen keine Auswirkungen. Dennoch war es eine neue Zeit, geprägt durch das Verständnis, das nur Zusammenarbeit zum Erfolg führt. Ironischerweise führte übersteigerter Egoismus zum Zeitalter dieser neuen Korporation. Zum Zeitalter der Allianzen.

Teil 1 - Aufnahmeritus

"Hätte ich die Wahl zwischen einem weisen Einzelgänger und einem loyalen Idioten - der Idiot wäre mir lieber."

Seit dem Abschied in Hannover waren zwei Tage ins Land gegangen; mit müden Augen überquerten Mark und Avenger nachts die österreichische Grenze, und steuerten auf ihrer Straße direkt auf eine Ansammlung von Polizeiwagen zu - offensichtlich eine Straßenkontrolle.

Machen wir noch eine Wahrscheinlichkeitsbetrachtung. Die Aufgabe einer Straßenkontrolle ist es, mit minimalem Aufwand und minimaler Verzögerung des Durchgangsverkehrs möglichst effektiv Kontrollen bei verdächtigen Personen durchzuführen. Der Geländewagen sah noch relativ unverdächtig aus, aber die Passagiere? Zwei Leute in schwarz mit Sonnenbrillen, unbestimmtem Gesichtsausdruck und - in Marks Fall - Dreitagebart. Dazu noch ein abgedeckter Kofferraum, kein Anzeichen von Urlaubsgepäck und noch nicht einmal Anstalten, einen Reisepass zu zeigen. Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass einer der Insassen - wiederum Mark - wohl für Polizisten das bekannteste Gesicht der Welt sein müsste, erscheint es mehr als unglaublich, dass solch ein Wagen nicht angehalten wird.

Der zuständige Polizist war also entweder blind oder stoned, als er den Wagen ohne Murren passieren ließ. Alternativ hätte man auch vermuten können, dass sein Verstand einfach gerade Urlaub machte.

Ein paar Stunden später...

"Hey, wie spät ist es?"
"Sechs Uhr morgens. Ist schon ziemlich hell."
"Soll ich wieder in den Kofferraum?"
"Ich halte mal kurz da vorne an, dann kannst du umsteigen."

Der Wagen stoppte an einem Rastplatz, der natürlich vollkommen verlassen war, bedingt durch die unchristliche Zeit. (Dieser Ausdruck hingegen gehört zu den billigen Versuchen des Autors, mit der Doppeldeutigkeit eines Wortes zu spielen.) Avenger öffnete die Tür des Wagens und trat heraus an die frische, intensiv duftende und leider auch recht kalte Morgenluft. Avenger legte ihre Arm eng an ihren Körper und begann mit einer unkontrollierten periodischen allgemeinen Muskelbewegung, unter Sterblichen auch als "Zittern" bekannt. Der Wind wirbelte ihr langes, schwarzes Haar durcheinander, wehte das T-Shirt etwas zur Seite und berührte auf Bauchnabelhöhe ihre nackte Haut.

Das ganze hätte wohl erotisch ausgesehen, wenn sie nicht angesichts der Kälte ein total verzogenes Gesicht aufgelegt hätte.

"Mark ?"
"Was ist?"
"Kann...ich...mir...dein Sweatshirt...ausleihen?"
"In einer Minute liegst du wieder im Kofferraum, da ist es wärmer."
"Was interessiert...mich die Zukunft! Ich...friere...jetzt!"
"Reinlegen. Jetzt. Sofort."

Avenger ging langsam zur Heckklappe hinüber, berührte den Griff und zuckte zurück.

"Der Griff...ist vereist!"
"Muss ich denn hier alles selber machen?"
"Ich weiß...auch nicht...normalerweise...macht mir Kälte nichts aus."
"Hm, Avenger, dreh dich mal um."

Sie starrte in die aufgehende Sonne.

"Verdammt...ich muss...in den Schatten!"
"Entschuldige die dumme Frage, aber ist Sonnenlicht nicht verdammt tödlich für euch Vampire? Will sagen, müsstest du dich nicht schon in Asche aufgelöst haben? Das soll jetzt nicht klingen wie so'n unsensibler Kuhmist, aber..."
Avenger hörte auf zu zittern und ließ sich von den Sonnenstrahlen wärmen, und fing vor Vergnügen fast wieder zu zittern an.
"Ja, schon verstanden. Ich bin genauso überrascht wie du."
"Und wo wir schon dabei sind, hast du zwischendurch ne Familienpackung Selbstbräuner geschluckt?"

Avenger schaute auf ihre Hand und sah, dass sie immer noch etwas vor Kälte zitterte. Das, und außerdem hatte sich ihre Hautfarbe inzwischen von aschfahl zu hellbraun gewandelt. Als ihr ein paar Haare vors Gesicht wehten, bemerkte sie außerdem, dass sie jetzt aussahen, als hätte eine Blondine unter Wasserstoffperoxyd geduscht.

"Sieht super aus, wenn ich das mal so sagen darf. Glitzert wie Chrom."
"Hm...vielleicht sollte ich mir für dieses Erscheinungsbild einen anderen Namen zulegen. Chrome...gefällt mir."
"Bah, da sagt man einmal was Dummes..."
Avenger...Entschuldigung, Chrome schaute in Marks Richtung.
"Bevor du weiterredest, würde es mich und deine sekundären Geschlechtsmerkmale freuen, wenn du deinen Blick von meinem T-Shirt heben würdest."
"Eh, ach ja. Kommt nicht wieder vor."
"Weißt du, was ich mit dem letzten Typen gemacht habe, der in diese Richtung gestarrt hat? Also..."

Chrome setzte zu einer halbstündigen, nicht-jugendfreien Erzählung an. Mark sah von diesem Zeitpunkt an davon ab, ihre Oberweite zu inspizieren.

"Also, steig wieder ein, wir müssen weiter."

Die nächsten Stunden gestalteten sich in der Richtung interessant, dass Mark und Chrome ausgiebig darüber diskutierten, was sich seit ihrer Zeit geändert hatte; natürlich wusste Mark nicht besonders viel historisches zu berichten, aber dafür konnte er ihr um so besser aufzählen, warum Fast Food eine Verschwörung der Frauenzeitschriften war, um aus dem Diätwahn Geld zu schlagen. Nebenbei erläuterte er einige grundlegende Elemente des modernen Lebens, wie Elektrizität, öffentliche Verkehrsmittel, das Konzept der Platinum-Kreditkarten von American Express sowie den praktischen Einsatz von Feuerwaffen. Er schloss mit einer Lektion in moderner Sprache.

"Also, der ganze Bullshit war ja ziemlich krass, aber kommen wir doch konkret mal zur Wochenendplanung von euch Nixpeilern."
"Was habe ich über das Vokabular des urbanen Proletariats gesagt?"
"Ja, richtig. ‚Nur die Scheiße labern, wenn's nicht anders geht.'"
"Ein fast schon poetischer Ausdruck, nicht wahr?"
"Nein. Übrigens, kannst du mir jetzt eigentlich noch mal ganz genau erklären, was wir hier eigentlich machen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe."
"Zu unserer Mission. Also, vom Christentum hab ich dir erzählt, ja?"
"Ja, eine von diesen abgehobenen Sekten."
"Sicher, aber die Begriffe sind gut. Also, wir suchen die sieben Siegel der Apokalypse, um selbige zu verhindern. Azuriel, der Engel, hat mich im Himmel aufgelesen und für diesen Auftrag zurückgeschickt. Sharon ist ein Dämon..."
"Sorry, kämpfen wie nicht gegen Dämonen?"
"Doch, aber Sharon ist eine Alliierte."
" Sollte ich mir das notieren?"
"Nein, aber denk bitte dran."

Chrome gestikulierte in der Luft herum, als hätte sie einen Notizblock genommen und würde jetzt schreiben.

"Sharon - guter Dämon - nicht abmurksen."
"Also, wir reisen durch die Weltgeschichte, ritzen Schutzrunen in die Siegel, damit sie nicht gebrochen werden können. Wer sich uns in den Weg stellt..."
"...wird gehängt, erschossen, geviertelt und unter vierzig Tonnen Granit begraben?"
"Du fängst langsam an, mir sympathisch zu werden. Also, noch Fragen?"
"Ja. War das da gerade unsere Ausfahrt nach Rom?"

Ein kleiner, etwas unbedeutender, aber trotzdem doch sehr, sehr lauter Fluch hallte über die Straße.

Etwa 5 Sekunden später riss Mark das Lenkrad zur Seite und betätigte kurz die Handbremse, wodurch der Wagen sich um fast 180 Grad drehte - und das mehrmals. Nachdem der Wagen wieder relativ ruhig (wobei relativ ruhig hier wirklich relativ ist) auf der Straße stand (auch das stehen war eher relativ), drückte Mark das Gaspedal bis zum Anschlag auf den Boden, was den Wagen mit einem großen Satz nach vorne wieder in Fahrt brachte. Nach weiteren fünf Sekunden, in denen man ein paar verwirrten Autofahrern auswich, riss Mark das Lenkrad nochmals zur Seite und landete damit auf der Ausfahrt.

"Dir ist schon klar, dass du gerade ein Blumenbeet ruiniert hast?"
"Jep."
"Dir ist ebenfalls bewusst, dass du ein halbes Dutzend Begrenzungspfähle demoliert hast?"
"Jep."
"Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?"
"Wäre nicht passiert, wenn's hier Vorwegweiser gäbe."

Nach kurzer Staubewältigung auf dem Weg in die Innenstadt - wobei Chrome feststellte, dass Mark auch auf Italienisch fluchen konnte - setzte Mark sie bei einem Motel nahe einer Tankstelle ab.

"Also, nimm erst mal die Kreditkarte und besorg uns ein wenig Nahrung. Ist mir eigentlich verdammt egal, was du kaufst, aber ich bevorzuge Pizza Salami."
"Ist die gut?"
Mark lächelte.
"Eine gute Pizza Salami ist ein Hochgenuss. Ne miese Pizza Salami ist essbar."
"Nun gut. Was machst du?"
"Kurze Stadtrundfahrt. Ich muss mich mit den Gegebenheiten hier vertraut machen."

Chrome steckte die Kreditkarte weg und bewegte sich auf die Tankstelle zu. Nach kurzem Streitgespräch mit dem Verkäufer verließ sie die Tankstelle wieder, etwas frustriert ob der Tatsache, dass man dort keine Kreditkarten akzeptierte. Nach kurzem Überlegen kam ihr eine fantastische Idee - sie würde einfach jemanden fragen, wo man hier etwas Bargeld mit der Karte abheben könnte. Also steuerte sie zielsicher auf ein paar Fernkraftfahrer zu, die sich an einem Imbiss in der Nähe Pommes Frites mit Currysauce genehmigten. Besagter Imbiss schien seltsamerweise einen deutschen Besitzer zu haben - ebenso deutsche Stammgäste -, und das Gespräch der beiden lief wie folgt ab:

"Und dann erzählt sie mir, Spar hätte schon zu. Sag ich ihr, Alde, ist mir scheißegal, schaff Bier her!"
"Ey, wo wir grad bei Alden sind. Check mal die Tussi hinter dir mit de Silberhaar!"
"Krasser Body, der würde ich gern mal konkret die Haare färben!"
Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus, während sich Chrome immer weiter näherte.
"Hey Baby, was können wer für dich tun?"
Chrome folgerte durchaus korrekt, das hier das Vokabular des urbanen Subproletariats angebracht wäre.
"Der Macker inne Tanke macht Stress, Vollspast nimmt keine Kreditkarten. Gibt's hier nen konkreten Scheinchenwechsler?"
"Klar doch, komm mit Süße."

Die beiden führten sie in eine etwas dunkle Ecke - wenn man denn im lockeren urbanen Ödland bei hellem Tageslicht von einer dunklen Ecke reden kann -, wobei Chrome auffiel, dass es sich hier um eine Sackgasse handelte, aus der es anscheinend nur einen Ausgang gab - den Eingang. Sie bereitete sich instinktiv auf einen Angriff vor, entschloss sich aber, noch etwas mitzuspielen.

"Und ? Wo ist die Bank?"

Viel weiter entwickelte sich das Gespräch nicht; Chrome fühlte einen Schlag auf ihrem Rücken, als ein Baseballschläger mit ihrer Schulter in Kontakt trat. Von der Wucht des Angriffs wurde sie auf den Boden geschleudert und blieb zunächst liegen.

"Was sag ich dir? Ganz einfach. Schauen wir mal, ob die Tussi was Vernünftiges dabei hat."

Selbiges passierte nicht, und das war eine ziemliche Tragödie für die beiden Fernkraftfahrer, die beide schon seit langer Zeit weder über Geld noch Frauen verfügten. Es hatte so einfach werden können - ein kurzer Diebstahl, noch eine Vergewaltigung hinterher und man hätte es wieder geschafft, jemandem den Tag zu versauen. Andererseits ist anzumerken, dass es die beiden durchaus schafften, damit jemandem den Tag zu versauen - sich selbst.

Chrome führte aus ihrer liegenden Position einen wirbelnden Fußfeger aus, der den näheren Angreifer zu Boden riss, und war nach kurzer Zeit wieder auf den Beinen; mit einem bedächtig langsamen Schritt platzierte sie ihren Fuß auf der Hand des am Boden liegenden Angreifers, der gerade nach dem Baseballschläger greifen wollte. Seine Augen schlossen sich krampfhaft vor Schmerz, bevor sie ihn mit einem Tritt ins Gesicht endgültig ruhigstellte. Mit einer schnellen Bewegung ihres Fußes schleuderte sie den Schläger in die Luft und griff ihn mit ihrer rechten Hand. Sie setzte ein fieses Grinsen auf, dann fing sie an, den zweiten im Bunde zu bearbeiten. Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, ist festzuhalten, dass dieser Mann sich wenige Stunden später im Krankenhaus wiederfand, wo man mit großer Überraschung feststellte, dass ihm jemand 12 Rippen gebrochen hatte. Und zwar anscheinend alle einzeln. Seinen Freund fand man erst am nächsten Tag; mit weniger schlimmen Verletzungen war er in einem Müllcontainer aufgewacht.

Das würde allerdings erst in ein paar Stunden der Fall sein, und zu diesem Zeitpunkt waren die Beiden unfreiwilligerweise ruhig genug, dass sich Chrome an ihren Geldreserven bediente und sich sofort wieder auf den Weg zur Tankstelle machte. Der Ladenbesitzer gestikulierte zwar immer noch wie wild in der Luft herum und redete in einer ihr unverständlichen Sprache, aber er nahm das Geld und lies sie gewähren, als sie ein paar Mikrowellenmahlzeiten in einer Tasche verstaute und die kleine Bruchbude, die sich Tankstelle schimpfte, verließ. Auf dem Weg sammelte sie den weniger schwer verletzten Fernfahrer auf und schleifte ihn zum Hotel. Dort war anscheinend keine Hochsaison - um genau zu sein, musste sie mehrmals die Klingel an der Rezeption betätigen, bevor überhaupt jemand auftauchte.

"Si ?"
"Ich würde gern ein Zimmer mieten. Mein...Freund...hat etwas viel getrunken und braucht ein Bett zum Ausruhen."
"Und sie zahlen..."
"Kreditkarte ? Akzeptieren sie doch, oder?"
Der Mann warf einen kurzen Blick auf die von Azuriel beschaffte Zahlungsmöglichkeit.
"Si, Sinora. Nehmen sie die Präsidentensuite?"
Chrome kämpfte kurz mit dem Akzent des Mannes, dann antwortete sie.
"Ehm, ja. Buchen sie einfach über Karte ab. Geht doch, oder?"
"Si, Si. Nehmen sie den Schlüssel. Sie kommen zum Abendessen oder kochen selber?"
Chrome setzte ein fieses Lächeln auf.
"Danke, aber fürs Essen ist gesorgt."

Mit leicht übermenschlicher Kraft schleppte Chrome den immer noch bewusstlosen Mann die Treppe hoch und erreichte schließlich die Präsidentensuite, deren Tür sich mit dem Schlüssel öffnen ließ und den Blick freigab auf - nun ja, kein sonderlich berühmtes Zimmer, aber doch recht gut eingerichtet. Sogar mit einer Mikrowelle. Chrome hatte dafür allerdings kein Interesse, sondern warf ihren Gefangenen auf den Boden, griff in ihre Umhängetasche und förderte ein Seil zutage. Mit einstudierter Präzision und Geschicklichkeit machte sie sich daran, ihr Opfer ruhigzustellen.

Ein paar (aber nicht sonderlich viele) Stunden später...

Mark parkte den Wagen in der Nähe des Hotels und erblickte Chrome auf dem Balkon der Suite; er winkte ihr zu, dann öffnete er den Kofferraum des Wagens und erleichterte ihn um eine mit diversen Waffen und Munition gefüllte Tasche. Anscheinend mit sich selbst zufrieden verschloss er den Wagen und schickte sich an, seine erste halbantike, fast zerbröselnde, aber auf wunderbare Weise doch haltende - kurz gesagt, italienische - Treppe zu bezwingen. Oben angekommen fiel ihm vor Schreck erst einmal die Tasche aus der Hand.

"Chrome, wärst du in der Stimmung, mich zu erleuchten im Bezug auf die Frage, wieso zum Teufel hier ein handlich verschnürter Typ rumliegt?"
"Ich brauch was zum Essen."
"Lenk nicht vom Thema ab."
"Das tue ich nicht. Er ist meine nächste Mahlzeit."
"Oh, ja, richtig, unsere Vampirlady braucht Blut. Ok, sperr die Lauscher auf, denn das sage ich nur einmal - solange du in meinem Team spielst, gelten meine Regeln. Du wirst den Typen sofort loswerden!"
"Und was soll ich sonst machen? Diesen Mikrowellenschrott in mich reinstopfen und hoffen, dass ich nicht dran verrecke? Von einer Mahlzeit an dem Typen könnte ich locker ne Woche durchkommen. Wie lange dauert unsere Mission noch?"
Mark seufzte.
"Ich dachte, als du dich in einen Menschen verwandelt hast, würdest du auch wieder etwas Menschlichkeit kriegen. Anscheinend nicht. Schau dich an! Schau dich verflucht noch mal an! Es sind genügend Unschuldige gestorben wegen mir, und dafür will und kann ich nicht verantwortlich sein! Einer von euch beiden verlässt diesen Raum, sofort!"
"Komm von deinem Ross runter und schau dich mal an! Los, geh zum Spiegel und schau dich an, und dann sag das noch mal! Sag, dass an deinen Fingern nicht das Blut von Unschuldigen klebt!"

Das Argument saß; Mark drehte sich um und verschwand im Badezimmer, wo er sich vor den Spiegel stellte und sich ansah.

Er sah - älter aus. Seine Haut war verbrannt von den Strahlen der Sonne, wie unheiliger Stahl, geschmiedet über dem Höllenfeuer. Seine Haare wucherten wie Unkraut; zwar immer noch dunkel, aber sichtlich blasser. War da eine graue Strähne? Mark konnte es nicht erkennen; er wollte es nicht sehen, aber er zwang sich, weiter in den Spiegel zu schauen. Sein Bart - wann hatte er sich das letzte Mal rasiert? Er wusste es nicht. Er versuchte sich zu erinnern. Aber die Erinnerungen von der Zeit vor seinem Tod schienen blass, verschwommen, unklar. Fremd? Vielleicht. Er schaute wieder. Seine Augen waren müde - nicht die Art körperliche Müdigkeit, sondern seelische Erschöpfung. Sie wirkten alt, sehr alt, aber trotzdem irgendwie mit einem Feuer gefüllt - ein Feuer, das dort nicht hingehörte, ebenfalls fremd war. Sein Gesicht wirkte auf einmal definierter, steif, als hätte sich jemand hingesetzt und die unklaren Linien mit einem harten Bleistift nachgezogen. Er schaute noch einmal in den Spiegel, schaute in sein Gesicht. Das war nicht mehr Mark Simmons. Es war jemand anders, der von ihm Besitz ergriffen hatte. Eine Gegenwart, gegen die er selbst nicht anzukommen hoffen dürfte. Er war nicht tot, weit davon entfernt, aber er lebte auf einmal nicht mehr.

Er war ein Fremder in einem fremden Land, und auf einmal wurde ihm klar, was er verloren hatte.

"Chrome ?"
"Was ist?"
"Lass den Mann gehen."

Kein Befehl mehr, sondern ein fast unhörbares Flüstern - aber es traf mit einer Kraft, die kein Kampfschrei übertreffen könnte. Chrome ließ den immer noch bewusstlosen Kraftfahrer wieder auf den Boden fallen und drehte sich zu Mark um, der das Badezimmer verließ und sich auf einen Stuhl fallen ließ. Nach einigen Sekunden hob er seinen Kopf und schaute Chrome an. Er war verändert; Chrome konnte nicht genau bestimmen, was an ihm auf einmal anders war, aber es machte ihr Angst und füllte eine Leere in ihr, die dort seit ihrer Vampirwerdung bestand - sie fühlte einen Schauer über ihren Rücken laufen. Wie ein Dammbruch wurde sie überschwemmt von neuen Emotionen, Gefühlen, die sie sich als Kriegerin nicht erlauben konnte. Reue, Mitgefühl, Bedauern.

"So. Ich habe in den Spiegel gesehen. Jetzt bist du dran."
"Was ist..."
"Schau du in den Spiegel, und dann sag mir, dass du diesen Mann dort immer noch töten willst."

Chrome schüttelte sich, versuchte ihre Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen, und es gelang ihr scheinbar.

"Bitte. Dann schaue ich eben in den dummen Spiegel. Dieser Typ hier wollte mich ausrauben und vermutlich noch etwas Spaß mit mir haben. Er ist kein Unschuldiger. Er verdient den Tod."
"Schau in den Spiegel. Schau einfach in den Spiegel, und dann frag dich, ob du das bist."

Chrome schlug die Tür hinter sich zu und starrte wie auf Befehl in den Spiegel, offensichtlich gerade noch im Besitz der Kontrolle über ihre Wut. Nach einigen Sekunden wendete sie sich schnaubend ab und drehte sich zur Tür, als ihr etwas am Spiegelbild ins Auge stach; sie drehte sich wieder zurück und betrachtete sich. So wie die Sonne wieder unterging, schwand auch die Farbe aus ihrem Gesicht. Das, was vor einigen Minuten noch rosige, tiefgebräunte Haut war, verlor seine Farbe. Auf einmal wirkte ihr Gesicht wieder schmaler, mit festeren Linien; ihr Haar wurde dunkler, bis es wieder schwarz wie die Nacht war.

Sie betrachtete die Verwandlung noch eine Sekunde; dann zersprang das Spiegelbild in Millionen Fragmente, die kurz wie Sterne glühten und sich dann auflösten. Schließlich war von ihr im Spiegel nichts mehr zu sehen.

Ihr menschliches Aussehen war mit der Sonne verschwunden, aber es hatte Spuren hinterlassen, alte Wunden aufgerissen. Avenger fühlte sich wieder verletzlich, klein. Menschlich. Der Durst nach Blut war wieder da, aber nun gab es auch einen Schmerz, wie einen Dorn in ihrem Finger, der sie in den Wahnsinn trieb. Sie dachte an den Mann, der immer noch im Zimmer lag, wie sie ihm jeden Milliliter Blut aussaugen wollte. Sie erinnerte sich an den Geschmack von Blut in ihrem Mund, als sie zum ersten Mal jemanden ausgesaugt hatte, wie sein sterbendes Herz einen Schwall Blut in ihren Rachen geschossen hatte, wie sein warmes Blut in ihrem Gesicht verschmiert war, und wie sehr sie es genossen hatte.

Bei dem Gedanken daran wurde ihr so übel, das sich ihre letzte Mahlzeit in der Kloschüssel wiederfand.

Erst nach einigen Sekunden, in denen sie den Geschmack von Blut wieder in ihrem Mund hatte, richtete sie sich auf und schleppte sich zum Waschbecken, wo sie sich die nächste Minute lang sorgfältig den Mund auswusch. Als sie das Badezimmer verließ, wartete Mark bereits auf sie.

"Und ? Immer noch hungrig ?"
"Schmeiß zwei Portionen in die Mikrowelle und bring den Abschaum bitte in den nächsten Müllcontainer."
Mit teilweise vorgetäuschter Wut ließ sich Avenger auf den nächsten freien Stuhl fallen.
"Willkommen zurück in der Menschheit."
"Hör auf zu labern und bring das Arschloch aus meiner Reichweite, bevor ich's mir anders überlege."

Mark hievte den anscheinend gut durchgefütterten Mann auf seine linke Schulter und machte sich an den Abstieg; hinter ihm fiel die Tür wieder ins Schloss, und Avenger saß wieder da, immer noch tief in Gedanken versunken. Nach einigen weiteren Sekunden sprang sie von ihrem Stuhl auf und lief unruhig durch das Zimmer. Ihre Schuhe klapperten auf dem alten Parkettboden, die Jeans knitterten bei jedem Schritt und schmiegten sich an ihre Beine an. Marks altes schwarzes T-Shirt flatterte auf Bauchhöhe im sanften Wind eines offenen Fensters, während es aufgrund ihrer an dieser Stelle nicht näher beschriebenen Anatomie besser saß, sprich sehr viel enger anlag. (Der geneigte männliche Leser möge seine Phantasie benutzen.) Nach einigen Schritten fing sie an, ein paar Nahkampfpositionen durchzugehen; mit mechanischer Präzision folgten Blocks auf Tritte, Schläge und Griffe, bevor Mark wieder den Raum betrat und sich an die Zubereitung des Abendessens machte. Nach etwa zwölf Durchgängen ihrer privaten Abwehrbewegungen standen zwei mittelgroße Wagenräder aus genmanipuliertem Teig, Gewächshaustomaten und amerikanischem Käse auf dem Tisch.

"Hat ganz schön lange gedauert, den Typen in den Mülleimer zu schmeißen, oder?"
"War noch kurz einkaufen."

Mark warf ihr ein kleines Päckchen Tabletten zu.

"Hab gehört, Vampire leiden unter chronischem Mangel an Eisen. Schluck von denen täglich eine, und du solltest dich nicht mehr so elend fühlen."
"Du denkst mit. Gefällt mir."
"Hast du schon mal über Menschlichkeit nachgedacht? Ich meine, für mich ist das einfach zu sagen, ich war nur ein paar Stunden tot, aber du..."
"Wenn wir zu menschlich sind, werden wir unseren Auftrag nicht ausführen können. Das solltest du wissen."
"Wenn wir unsere Menschlichkeit aufgeben, dann ist unser Auftrag bedeutungslos. Wir dürfen nicht aufgeben, was wir verteidigen."
"Du guckst zuviel Fernsehen. Lass dir das von jemandem sagen, der schon mal gelebt hat - der Held in strahlender Rüstung kriegt nen Pfeil in den Rücken. Die Guten gewinnen nicht immer."
"Aber deshalb können wir nicht einfach durch die Gegend laufen und Leute umbringen. Das ist eine Lektion, die ich erst vor kurzem gelernt habe. Unsere Kräfte sollen nur dem Zweck dienen, die Menschen zu schützen."
Avenger klatschte müde etwa fünfmal in die Hände.
"Toll vorgetragen Boss, kommst in den Himmel. Also, was machen wir?"
"Du hast erst mal Urlaub. Versuch so viel wie möglich aufzuschnappen, entspann dich, und bei Gelegenheit organisierst du uns ein Privatflugzeug nach Brasilien. Ich hol dir morgen erst mal nen tüchtigen Batzen Bargeld, dann suche ich das Siegel. Az hat was von einem Gangsterboss gesagt, um den ich mich kümmern soll."
"Na gut, probieren wir es auf deine Art."

Avenger stopfte sich einen Bissen Pizza in den Mund und kämpfte hart gegen einen erneuten Brechreiz an.

"Bah, was zum Teufel ist das?"
"Wie gesagt, Pizza aus der Mikrowelle. Schmeckt scheiße, aber man kann davon leben. Stopf es in dich rein, dann gehen wir schlafen."


Von Gatac

 

copyright by www.jaggedalliance.de - Stand: 31.03.2002