II: Schnelle Lösung
Lagos
„Astou?
Bist es du?“
„Wer
ist da?“
„Ich
bin es, Maurice.“
„Maurice!
Wo bist du?! Geht’s dir gut?“
„Ja,
es geht mir gut. Astou, du musst jetzt gut zuhören und genau das
tun, was ich dir sage.“
„Ja,
sag was los ist!“ “Ich wurde entführt und in
einem Minengelände bei Oyo festgehalten. Ich konnte fliehen und
stehe jetzt auf dem Flughafen in der Nähe von der City Avenue
beim Oshodi-Markt. Ich hab einen Freund dabei und wir müssen
dringend von dort weg, weil man uns wahrscheinlich schon sucht, du
musst…“ Ein langer Piepston ertönte und das
Gespräch wurde unterbrochen. Astou, der Lebensgefährtin von
Maurice Renard, blieb beinahe das Herz stehen. Sie hielt den Hörer
noch eine Minute lang an ihr Ohr, weil sie es einfach nicht fassen
konnte, dass sie mit ihrem vermissten Freund telefoniert hatte und
das Gespräch unterbrochen worden war. Das verdammte Telefonnetz
von Lagos war einfach das Letzte. Astou überlegte nicht lange
was sie tun sollte. Sie wählte die Nummer ihrer
„Fast-Schwägerin“ Amalia Renard, bekam aber keine
Verbindung. Drüben auf Victoria Islands hatten sie sicher
funktionierende Telefonleitungen, wie sie auch immer Strom und
fließendes Wasser hatten. Sogar kalt und warm. Normalerweise
war Astou das egal, aber jetzt erfüllte sie es mit Wut. Sie
wählte wiederum die Nummer. Ein Piepsen kündete davon, dass
sie diesmal Glück hatte.
„Hallo,
Francis Le Fallet?“
„Hier
Astou, ist Amalia da?“ “Ja, ich hol sie schnell.“
Es
dauerte ein paar Sekunden, die Astou, wie eine Ewigkeit vorkamen, bis
Amalia an den Apparat kam.
„Ja?
Ich bin…“
„Maurice
hat angerufen! Er ist bei einem Flugfeld in der Nähe vom Oshodi
Markt. City Avenue. Ich sehe zu, dass ich dort hinkomme. Tschüss!“
Astou
hatte aufgelegt, bevor Amalia überhaupt zu Wort gekommen war.
Der
Chauffeur, der sich inzwischen als Adolphus Diffa, vorgestellt hatte
und weniger schweigsam war, als noch bei der ersten Fahrt, lenkte die
Söldner wieder sicher durch den mörderischen Verkehr von
Lagos. Während Cool Ibo noch darüber sinnierte, welcher
christliche Missionar wohl Adolphus Eltern dazu gebracht hatte, ihrem
Sohn diesen beschissenen Namen zu geben, kam Adolphus von selbst auf
das Thema zu sprechen und forderte sie auf, ihn, wie alle seine
Freunde, einfach „Alf“ zu nennen. Die drei Söldner
nannten ihm auch ihren Namen und ließen sich dann von ihrem
neuen Freund das Stadtbild erklären.
Viel
gab es nicht zu erklären. Die großen Straßen, die
meistens auf Brücken verliefen, wurden von der Miliz bewacht.
Eine furchtbar heruntergekommene Polizeitruppe in bunt
zusammengewürfelten Uniformteilen und mit verrotteten
Kalaschnikow Gewehren, auf deren Funktionstüchtigkeit die
Söldner keinen Pfifferling gewettet hätten. Die
Hauptaufgabe dieser Soldateska war es die Reichen von Lagos vor
Übergriffen bewaffneter Räuberbanden zu schützen und
Unruhen in den Slums blutig niederzuschlagen. Jedes Jahr wurden
Hunderte sogenannter „Verdächtiger“ von der Polizei
regelrecht exekutiert. Sicherer wurde die Stadt dadurch auch nicht,
selbst bei hellstem Tageslicht war ein Ausflug in die
Festlandssiedlungen so verlockend wie die Aussicht an einem
Geländelauf durch die ausgewiesenen Minenfelder Kambodschas
teilzunehmen.
Einer
dieser Polizisten winkte den weißen Range Rover zur Seite. Alf
ließ die automatische Fensterscheibe herunter und der
Polizeibeamte steckte seinen Kopf herein und musterte die drei
Söldner auf der Rückbank.
„Police!“
dabei deutete er mit dem Daumen auf seine Brust.
„Gut
dass du das sagst, sonst könnte man ja meinen du wärst
irgendein versoffener Menschenschinder dem man zufällig ein
Gewehr gegeben hat.“
„Ibo,
mäßige deine rüde Wortwahl, wir haben es hier mit
einer Amtsperson zu tun.“ Antwortete Phoenix grinsend. Der
Polizist, der kein Wort von dem auf Deutsch geführten Gespräch
verstand, wandte sich wieder dem Fahrer zu.
„Sie
sind zu schnell gefahren, Sie müssen eine Strafe zahlen.“
Das Wageninnere füllte sich mit dem üblen Mundgeruch des
Milizsoldaten.
„Stimmt
nicht, ich bin Vierzig Meilen gefahren die ganze Strecke!“
antwortete Alf, griff aber schon nach dem Portmonee in der
Mittelkonsole.
„Sie
sind zu schnell gefahren! Ich bin Polizei-Major, also widersprechen
Sie mir nicht! Zwanzig Dollar.“
„Was,
bist du verrückt? Zwanzig Dollar, was soll der Scheiß.“
brüllte Alf, aber reichte dem Polizisten das Geld.
„Von
jedem. Vier Leute sitzen im Auto. Alle vier müssen zahlen, wenn
das Auto zu schnell ist.“
Die
Schimpftirade die Alf diesmal losließ überstieg die
audioelle Auffassungsgabe, seiner Passagiere im Fond des Wagens. Er
zählte Geld ab und runzelte dann die Stirn. Das Geld reichte
nicht. Panisch suchte er weiter das Handschuhfach und seine Taschen
ab, aber es kamen nur noch ein paar zerknitterte Dollarscheine und
ein Bündel der wertlosen nigerianischen Währung zu Tage.
Der Soldat lehnte sich weiterhin durch das Fenster und blieb ruhig.
Schließlich drehte sich Alf zu den Söldnern um. Verlegen
fragte er sie:
„Das
tut mir wirklich schrecklich Leid. Aber könntet ihr mir 30
Dollar leihen? Ihr bekommt das Geld wieder zurück. Versprochen.“
Ihm
war es sichtlich peinlich mit dieser Bitte an seine Fahrgäste
heranzutreten.
Ibo
machte Anstalten dem unverfrorenen Polizisten Paroli zu bieten, aber
Ypsilon holte seinen Geldbeutel hervor und holte die dreißig
Dollar heraus. Die Sache war zu belanglos um sich darüber
aufzuregen.
Der
Major hatte sich schon die 50 Dollar von Alf gekrallt und reckte nun
seine Hand an der Kopfstütze des Fahrers vorbei zu Ypsilon. Der
drückte ihm die Geldscheine in die Hand.
„Willst
du vielleicht auch noch ein Tik-Tak? Du stinkst aus dem Maul,
свинья.“ Kommentierte
Ypsilon ohne erkennbare Gefühlsregung. Der Major nahm das Geld
und trottete von dannen. Als der Wagen wieder anfuhr, warfen die drei
Söldner einen letzten Blick auf die Truppe am Straßenrand.
Sie stritten sich um das Geld, wobei ein Soldat in Sandalen, der als
einziges Kleidungsstück eine kurze Sporthose trug, jedoch ein
gefährlich aussehendes FN MAG um die Schultern gehängt
hatte, handgreiflich wurde und sich mit dem angeblichen Major schlug.
Diese
Szene wischte schließlich die letzten Zweifel der Söldner
über die Zukunft Nigerias hinweg. Das ganze Land schien
geradewegs auf den Abgrund zuzusteuern und niemand kam auf die Idee
die Bremse zu betätigen.
Alf
war ruhig geworden und steuerte den Wagen nach einigen Kilometern auf
eine der wenigen unbebauten Flächen der Stadt. Auf dem Weg
hatten die Söldner mit ansehen können, wie die Qualität
der Straßen und Häuser immer schlechter geworden war. An
die klimatisierten Marmorstein-Villen und vierspurigen Straßen
auf Victoria Island erinnerte hier nichts mehr. Die Straße
bestand aus zwei Fahrrinnen und die Hütten waren aus allem
möglichen gebaut, nur nicht aus Stein. Alf stieg aus. Die
Söldner taten es ihm gleich und zuckten zusammen, als plötzlich
eine Cessna über ihre Köpfe hinwegzog und fünfzig
Meter weiter auf dem unebenen Grund aufsetzte. Sie rollte aus und
beschrieb einen großen Bogen, ehe sie zu ihnen hinüber
rollte. Nun war klar, dass es sich bei dieser Holperbahn nicht um
einen Bauplatz handelte, sondern um einen Flugplatz. Die Cessna blieb
nur wenige Meter vom Landrover stehen und der schwarze Pilot sprang
heraus. Er schien sich nicht um seine Maschine zu sorgen sondern ging
schnurstracks in eine Hütte, deren Bemalung sie unzweifelhaft
als Kneipe auswies. Die Söldner staunten immer noch über
die Leistung des Piloten seine Maschine auf diesen vierhundert Metern
Hindernisparcours runterzubringen, als Alf sie in eine Hütte
winkte.
In
der Hütte war es düster und tausend verschiedene Gerüche
peinigten die Nasen der Söldner und jemand stöhnte. Als
sich ihre Augen an das schlechte Licht gewöhnt hatten konnten
sie ein Lumpenbündel in der Ecke ausmachen, das die seltsamen
Laute ausstieß, aber Alf drängte sie weiter. Sie gingen
durch die Hütte hindurch und kamen in eine Art Hinterhof, wo ein
weißhaariger Mann auf sie wartete.
„Eure
Lieferung ist schon seit vier Tagen hier. Da drüben. Er deutete
auf eine große Metallkiste und verschwand wieder in einer an
den Hof angrenzenden Hütte.
Ibo
wischte die Sandschicht von der Kiste und brachte den Aufkleber mit
der Aufschrift: Frankfurt a. Main / Germany zu Tage. Die Kiste war
versiegelt, vernagelt und mit einem Vorhängeschloss versehen. Es
dauerte 15 Minuten bis sie sie mit Gewaltanwendung geöffnet
hatten. Phoenix hob den schweren Deckel an.
In
der Kiste waren Glühbirnen. Osram Energiesparlampen 40 Watt E7.
Hunderte davon, jede in der Originalverpackung. Die Söldner
arbeiteten stumm und langsam. Sie hoben die Glühbirnen heraus
und stapelten sie auf dem Boden des Hofes. Nach der zehnten Schicht
stießen sie auf einen Zwischenboden aus Pressspan. Ypsilon
schlug einfach zwei Löcher hinein, in die er seine Hände
steckte und riss schließlich das Brett heraus. Nach dem
obligatorischen Schulterblick hoben sie die Schießeisen heraus.
Ibo
schnappte sich seinen M4A1 Karabiner und seine Five-Seven. Die
Pistole war geladen und drei Ersatzmagazine waren mit Klebestreifen
an ihr befestigt. Er steckte die Waffe in seinen Gürtel und die
Magazine in die Hosentaschen. Dann widmete er sich seinem verkürzten
Sturmgewehr, in dessen Verschlussstück die Sandkörnchen
knirschten als Ibo ihn testete.
Phoenix
beugte sich über die Kiste. Etwas verdutzt hob er ein M16A4
heraus. Keine Sniper für ihn? Wahrscheinlich hatte Hieb so
schnell nichts Brauchbares auftreiben können. Seit dem Zerfall
der Sowjetunion war der Markt zwar überlaufen von billigen und
zuverlässigen russischen Waffen, aber die
Dragunov-Präzisionsgewehre waren das erste gewesen, was Ende der
neunziger Jahre wieder knapp geworden war. Phoenix würde das
Beste aus der Situation machen, wenigstens hatte Hieb jede Menge
Zubehör eingepackt. Darunter ein gutes Zielvisier, das Phoenix
schnellstens anbringen würde. Außerdem hatte er zwei
Pistolen. Eine belgische Five-Seven und eine 357. Sig Sauer. Zwei
seiner favorisierten Modelle.
Ypsilon
hatte seine österreichische Glock Pistole samt Zubehör
schon gegriffen und sah nach, was Hieb oder Barl sonst noch für
ihn eingepackt hatten. Da niemand Anspruch auf das AK-74 erhob nahm
er es an sich. Keine der chinesischen Nachbauten sondern das
russische Modell. Allem Anschein nach fabrikneu. Das lackierte Holz
des Griffs und des Handschutzes glänzte rötlich und aus dem
Lauf waren nach Ypsilons Meinung noch keine 50 Schuss abgefeuert
worden. In der Kiste lag noch allerlei Zubehör, dass Ypsilon
sofort anbrachte. Dabei handelte es sich um einen 6GD5-Granatwerfer
der unter dem Lauf angebracht wurde, ein Bajonett sowie ein
Laserzielhilfe. Ganz unten lag auch noch ein NSPU-3
Nachtsichtaufsatz, den Ypsilon jedoch nicht anbrachte, da er ungefähr
so lang wie sein Unterarm und dementsprechend unhandlich war.
Die
drei Söldner hängten sich die Gewehre über die
Schulter und verstauten das restliche Material aus der Kiste in einer
mitgebrachten Sporttasche, dann ging es wieder durch die Hütte
nach draußen. Alf stand schon im Türrahmen und redete mit
Hoe. Zwei Kinder saßen nun in der Hütte. Aus dem
Lumpenbündel in der Ecke schaute nun ein schwarzer Frauenkopf
mit weißen Augen und Zähnen. Eine Fliege lief über
das Augenlied, aber sie reagierte gar nicht. Als die Söldner
endlich ins Freie kamen, folgte ihnen das Stöhnen.
Phoenix
drehte den Kopf und fragte Hoe: „Was hat sie?“
„Das
ist meine Frau. Sie hat die Krankheit.“
„Welche
Krankheit?“
„Das
Virus. Ich war schon bei so vielen Medizinmännern, aber sie
können ihr nicht mehr helfen.”
Phoenix
ging nach draußen ohne sich umzusehen.
Alf
hatte zugehört und teilte den Söldnern außerhalb von
Hoes Hörweite mit: „Sie hat AIDS und wird sterben. Die
Leute in den Armenvierteln verstehen das nicht. Sie benutzen keine
Kondome und haben allerlei Aberglauben im Kopf, wenn es um das Virus
geht. Hoe ist selbst wahrscheinlich auch HIV-Positiv. Genau wie die
meisten ihrer Kinder. Ich möchte wirklich nicht genau wissen,
wie weit sich AIDS in Lagos schon ausgebreitet hat. Aber die
offiziellen Zahlen sind wohl sehr optimistische Schätzungen. Sex
ist hier wie russisches Roulett. Du weißt nie ob eine Kugel in
der Kammer ist. Und die Chancen sind wohl fifty-fifty.“
Hätten
die Söldner das noch nicht aus der Broschüre des
Auswärtigen Amtes gewusst, die jeder Nigeriabesucher
freundlicherweise umsonst erhielt, wäre mit dieser Feststellung
Alfs wohl ein weiterer Programmpunkt auf der „Land und Leute
Kennenlern-Liste“ der Söldner gestrichen worden.
Sie
legten die Gewehre in den Kofferraum und setzten sich in den Fond.
Der Pilot der Cessna war mit fünf anderen Männern
zurückgekehrt. Sie entluden das Flugzeug. Sie konnten sich
täuschen, aber das was sie ausluden, sah aus wie Stoßzähne.
Elfenbein.
Ibo
öffnete die Tür. Es wäre wohl zu einem Zusammenstoß
zwischen dem jungen Söldnern und den Tierteilehändlern
gekommen, wenn nicht in diesem Moment das Autotelefon geklingelt
hätte. Alf nahm ab. Er hörte konzentriert zu und stellte
immer wieder Fragen.
Renard
war aufgetaucht. Sie sollten ihn am Flughafen abholen. Keine zwei
Sekunden nach dem Anruf fuhren sie schon wieder auf die Straße.
Alf fluchte:
„City
Avenue. Da ist er. Verdammt noch mal, es gibt in der verdammten Stadt
ungefähr 200 Straßen die City Avenue heißen! Aber
ich glaub ich weiß ungefähr wo wir hin müssen.“
„Wo
sind wir eigentlich? Ich hab völlig die Orientierung verloren.“
meldete sich Ypsilon von hinten.
Alf
deutete auf das Meer, dass zwischen ein paar Lagerschuppen hindurch
zu sehen war. „Da drüben ist Victoria Island.“
Ypsilon
sah das Villenviertel. „Was? Das ist doch nicht mal ein
Kilometer! Wir sind doch fast eine Stunde gefahren?“
„Willkommen
in Afrika, weißer Mann.“ Alf lachte laut auf und schien
sich köstlich zu amüsieren, während Ypsilon einige
Unfreundlichkeiten auf Russisch zum Besten gab. Sie kamen wieder auf
eine größere Straße. Auf der holprigen Fahrbahn
wälzten sich fünf-, manchmal sogar achtspurig Autos dicht
gedrängt im Abgasnebel. Einem Lastwagen neben ihnen hatte der
Rost große Teile des Führerhauses weggefressen, der Fahrer
saß im Freien. Plötzlich vollführte ein Taxi vor
ihnen schlenkernde Lenkbewegungen, ehe ein Hinterreifen einfach
abbrach. Alf reagierte gerade noch rechtzeitig und wich aus. Er
schrammte das Taxi und fuhr einfach weiter, als ob nichts gewesen
wäre. Der Verkehr wurde immer dichter.
„Macht
die Fenster zu!“ kam der gebellte Befehl nach hinten.
Die
Söldner widersprachen nicht lange, sondern taten wie ihnen
befohlen. Und da waren sie schon. Kinderhände, Dutzende von
ihnen, die gegen die Scheiben klopften und bettelten. Alf hupte und
fuhr weiter. Die Straße war bevölkert von kleinen Kindern,
Blinden, Verkrüppelten und Händlern, die sich geschickt
zwischen den fahrenden Stahlkarossen bewegten.
Am
Straßenrand brannten Autoreifen. Abfallhalden türmten sich
bis zum Himmel, dazwischen die Holzhütten und Häuserruinen,
an deren Wänden Moos und Farn wuchsen. Die Söldner hatten
vorher am Flugfeld schon gedacht, sie wären im Slum von Lagos
gewesen, jetzt wussten sie, dass es sich dabei um das
Mittelschichtwohngebiet gehandelt hatte. Hier waren sie im Slum.
Die
Autokarawane kam nie zum Stehen oder wurden langsamer als zehn
Meilen, denn das war der Moment, in dem bewaffnete Jugendbanden von
Auto zu Auto liefen, die Scheiben einschlugen und die Insassen
ausraubten.
„Ein
Stau ist in Lagos lebensgefährlich.“ erklärte Alf
dazu „und wir haben eigentlich immer Stau.“
„Und
ich hatte gedacht Hieb übertreibt.“ murmelte Phoe und
versank in den weichen Sitzen, mit der Hand vorsichtig nach der
Pistole in seiner Tasche fühlend.
„Es
dauert wohl einen Tag, wenn ihr Lagos einmal von einem Ende bis zum
anderen durchfahren wollt. Ich hab gehört, ihr baut in
Deutschland Autos die 250 Kilometer in der Stunde fahren. Für
was braucht ihr die?“
„Bei
uns fahren nicht so viele Autos auf den Straßen. Wir haben mehr
Platz.“ antwortete Phoenix. Es war ihm zu kompliziert etwas
über deutsche Autobahnen, den ADAC oder Überholspuren zu
erzählen.
Zwei
Staustunden später, erreichten sie das Flugfeld neben der City
Avenue. Oder besser gesagt, Alf sagte es ihnen, denn die Söldner
hatten kein einziges Straßenschild gesehen. Das Flugfeld stand
mitten im Slum. Oder besser gesagt, das Slum hatte sich um das
Flugfeld herum gebildet. Kaum das sie stehen geblieben waren,
scharten sich Bettler um sie herum. Alf vertrieb sie und erst dann
wagten sich die Söldner auszusteigen. Die Kinderhorden waren nur
einen Steinwurf entfernt stehen geblieben und standen auf dem Sprung.
Unter einem Vordach aus einer Plastikplane dösten ein paar junge
Männer. Alf winkte einen von ihnen herbei und drückte ihm
1000 CFA Frances in die Hand. Wenn das Auto noch dastand, wenn sie
zurückkamen, würde er viermal so viel bekommen. Die Söldner
dachten wehmütig an die teuren Gewehre im Kofferraum und
stolperten hinter Alf her. Es ging mitten durch ein paar Hütten.
Die Hauptabfertigungshalle befand sich neben einem riesigen Müllberg,
auf dem Frauen mit Kindern in den Tragetüchern nach Metall und
verwertbaren Teilen suchten.
„Ich
wäre euch dankbar, wenn einer von euch hier draußen
bleiben würde und ein Auge auf das Auto wirft. Ich traue den
Kerlen nicht.“
Ibo
meldete sich freiwillig und die drei anderen verschwanden in der
Hütte. Ibo drehte sich um und sah zum weißen Landrover.
Der Mann, der es bewachen sollte hatte sich zwei Freunde geholt, die
die Gesichter gegen die Scheibe drückten und anscheinend gerade
berieten, was die Karre wohl ein paar Meter weiter beim
Schwarzmarkthändler einbringen würde. Ein Kind, das sich
etwas zu weit vorwagte wurde mit einem Fußtritt weggescheucht.
Ibo drehte sich um rümpfte die Nase vom Gestank, der aus den
Hütten drang. Neben einer Hütte war ein offener
Abwasserkanal, in dem knöcheltief die Scheiße und Pisse
stand. Ein zerfetzter Schuh schwamm herum und trieb langsam Richtung
Abfallhalde, wo das Rinnsal endete. Ibos Blick folgte dem Schuh vor
ihm und blieb ein paar Schritt weiter an etwas Seltsamem hängen.
Seine
Augen weiteten sich vor Unglauben. Da schwamm ein totes Baby.
Entsetzt
und abgestoßen wandte er sich ab. Er war Söldner, ans
Töten gewöhnt und sicherlich nicht zimperlich. Aber so
etwas musste er nicht sehen. Das war einfach zu viel.
Obwohl
er nicht wollte drehte er sich wieder um, in der Hoffnung, nicht
richtig gesehen zu haben. Aber er hatte sich nicht getäuscht. Es
war ein totes Baby, vielleicht einen Monat alt. Den Leib bis zur
Unkenntlichkeit aufgedunsen von der langen Zeit, die es schon in
dieser Brühe lag. Sah es denn niemand? Die Leute liefen nur
einen Meter daran vorbei, sie mussten es sehen! Sie konnten das arme
Ding gar nicht übersehen!
Ein
Hund lief zwischen Ibos Beinen hindurch, die Nase immer auf dem
Boden. Er hielt auch kurz bei dem toten Säugling, roch daran und
streunte weiter. Ibo merkte, wie etwas aus seinem Magen nach oben
kam. Er drehte sich um, würgte, konnte sich aber nicht
erbrechen. Ein alter Mann mit einer abgenagten Pfeife im Mundwinkel
sah ihn komisch an. Ibo riss sich zusammen. Sah in die andere
Richtung. Zum Wagen, weg von der Müllhalde und ihrem Inhalt.
Die
Söldner gelangten in die Abfertigungshalle. Diese war ein
bisschen größer, als das Flugfeld, auf dem sie vorher
waren. Keine Spur von Renard. Sie hatten alle ein Foto von ihm
gesehen. Mehrere sogar, sie würden ihn wiedererkennen.
„Ich
frag mal da hinten nach, bitte geht nicht so weit weg.“ Alf
schritt ans andere Ende der Halle.
„Ich
geh mal nach draußen. Hier riechts mir ein bisschen streng.“
antwortet Phoenix und drehte sich um. Ypsilon folgte ihm. Die Halle
war eigentlich ein Hangar und das große Tor stand weit offen.
Sie traten auf den Beton des Flugfeldes. Drei, vier Flugzeuge standen
herum, brüteten in der Hitze. Alle älteren Datums. Am Ende
des Feldes stand einer jener unverwüstlichen Sikorsky
Hubschraubern, die man rund um die Welt antraf. Ein flachsblonder
Overallträger schleppte gerade ein Kiste Bier zu dem
Hubschrauber.
Die
Söldner waren erstaunt und gleichzeitig erfreut ein weißes
Gesicht hier zu sehen. Sie schlenderten wie zufällig zu dem
Sikorsky. Der Weiße hatte die Kiste hinten verstaut und kam um
den Helikopter herum. Er trug einen olivefarbenen Fliegeranzug. Auf
seiner linken Schulter prangte ein Abzeichen. Ein Kreuz, dessen
Querbalken von zwei Adlerschwingen, den Längsbalken aus dem
Propeller eines Flugzeuges gebildet wurde. Das Abzeichen der
russischen Luftwaffe. Der Flieger mit slawischen Gesichtszügen
sah die beiden Männer vor ihm an. Er kniff die Augen zusammen,
hakte seine Daumen im Gürtel ein und blieb betont lässig
stehen. Aber es gelang ihm nicht richtig. Seine Körperhaltung
drückte äußerste Angespanntheit und Reserviertheit
aus.
„Hallo.“
Phoenix ließ seinen Blick über den Hubschreiber schweifen
und dann wieder zu dem Piloten. „Ist das Ihre Maschine? Schönes
Stück. Sind Sie der Pilot?“
„Co-Pilot.
Würden Sie bitte von der Tür weggehen.“ er drängte
Phoenix zur Seite und kletterte in das Cockpit.
„Nicht
sehr gesprächig, der kleine Bengel.“ kommentierte Phoenix.
Dabei fiel sein Blick auf die Seite des Hubschraubers. MMEA. Irgendwo
hatte er das schon einmal gelesen. Ihm fiel nur nicht mehr ein wann
und wo.
Alf
kam aus dem Hangar und winkte sie zu sich.
„Einer
von der Putzkolonne hat mir gesagt ein Weißer und ein Mann, der
wie Renard aussah, haben eine Botschaft für uns hinterlassen.
Renard sei auf dem Oshodi-Markt in der Hütte eines Töpfe-
und Pfannenhändlers. Der Markt ist gleich nebenan. Ich hab da
mal einen Kassettenrekorder gekauft.“ Und schon lief er los.
Die zwei Söldner folgten ihm zum Wagen, wo Alf den Männern
noch einmal 1000 CTA Frances gab, damit sie noch ein halbe Stunde auf
den Wagen aufpassten. Ibo trottete hinterher. Er war seltsam still
und wirkte abwesend.
Der
Markt war ein riesiges Holzhüttenmeer, in dem es keine einzige
asphaltierte Straße gab. Die schweren Lastwägen und Busse,
die trotzdem dort fuhren, hatten metertiefe Senken in den weichen
Boden gefahren. Überall waren Tümpel, in denen nackte
Kinder spielten und in denen es Milliarden Viren, Bakterien und
Moskito-Eiern gab. Es stank nach Verwesung und Kot.
Die
Söldner folgten einfach Alf und wichen dem Unrat auf der Straße
aus. Plötzlich brach Lärm los. Die Söldner zuckten
zusammen und griffen zu den Waffen, aber es war nur eine Horde
Kinder, die einen Stand überfallen hatten und mit ihrer Beute,
Äpfeln, durch die Menge stürmten. Einige Zuschauer
schimpften, einige lachten und der Markthändler rannte den
Kindern fluchend hinterher. Eines der Kinder sprang in die Straße
hinunter, die sich hier wirklich zwei Meter tief in den Boden
gegraben hatte und rannte zwischen Ypsilons Beinen hindurch. Der
Markthändler sprang hinterher und mitten in Ypsilon hinein.
Leider war er bisschen zu groß um zwischen Ypsilons Beinen
hindurchzuschlüpfen und ein bisschen zu klein um ihn umzurennen.
Er pralle an dem Riesen ab und landete, von seiner eigenen Wucht
getragen, in einer jener unhygienischen Bakterienbrutpfützen.
Ypsilon konnte nichts dafür, der Mann war ihm reingerannt. Das
war diesem jedoch egal und er überschüttet ihn mit einer
Schimpftirade, von der der schweigsame Russe Gott sei dank kein Wort
verstand.
Alf
zerrte sie weiter und hatte plötzlich einen weißhaarigen
Mann im Schlepptau, der aussah, als hätte er die achtzig Jahre
schon lange überschritten. Die beiden schienen sich zu kennen
und der Alte sprach sehr gut Englisch. Er übernahm den Part des
Fremdenführers. „Hier beklaut jeder jeden. Die nichts
haben werden von denen bestohlen die noch weniger haben. Vor ein paar
Tagen hat man zwei Diebe erwischt. Das Urteil wurde schnell gefällt.
Man hat ihnen Autoreifen über den Hals gestülpt und sie
einfach angezündet. Wenn ihr wollt, könnt ihr ihre
Überreste sehen. Sie liegen nur ein paar Meter weiter. Ihr könnt
Fotos machen. Nur einen Dollar. Wollt ihr?“
Die
Söldner wollten nicht. Sie wollten schnellstens wieder
verschwinden. Alf schüttelte den Mann ab und erzählte den
Söldnern was hier vor sich ging.
„Der
Markt wird von den Yoruba-Milizen kontrolliert. Das ist die größte
Volksgruppe hier im Land. Jeder auf dem Markt muss Schutzgeld zahlen.
Sonst geht es ihnen wie den beiden Dieben. Und nicht nur hier auf dem
Markt. Überall in der Stadt. Die Polizei tut nichts dagegen. Die
Yoruba-Gang ist zu mächtig. Es gibt aber noch andere. Die Haussa
und Ibo. Das sind die anderen zwei wichtigen ethnischen Volksgruppen
hier im Staat. Ich bin ein auch ein Ibo.“ Alf schlug sich dabei
mit der Hand auf die geschwellte Brust.
Nationalstolz
auf einem Kontinent, dem man das nicht zutrauen würde. Ibo
kannte sich etwas aus. Hauptsächlich weil er in einem Artikel
über Nigeria auf die seltsame Namensgleichheit zwischen dem Volk
der Ibo und seinem eigenen Namen gestoßen war. Die Ibo lebten
im Südosten. Berühmt geworden waren sie durch den
sogenannten Biafra-Krieg, der es in den sechziger Jahren sogar bis
auf die Fernseher und in die Zeitungen Westeuropas geschafft hatte.
Die Ibo, schon immer ein stolzes Volk, wollten sich unabhängig
erklären. Wobei die riesigen Ölfunde auf ihrem Land nicht
unbedingt eine unwichtige Rolle gespielt hatten. Aber sie verloren
den Krieg und mit ihm das Land Hunderttausende von Menschenleben. Nur
eine Episode in der dunklen Geschichte Afrikas, auch wenn sie etwas
länger im Bewusstsein blieb als ähnlich verlustreiche
Bürgerkriege.
„Die
ethnischen Milizen kontrollieren fast ganz Lagos und viele andere
Städte in Nigeria. Der Gouverneur von Lagos hat sogar schon
vorgeschlagen die brutale Yoruba-Truppe als Sicherheitsdienst für
die Stadt zu engagieren. Aber die Regierung konnte das Gott sei dank
verhindern, sonst wäre man hier in der Stadt als Ibo oder Haussa
seines Lebens nicht mehr sicher. Schon jetzt gibt es Kämpfe mit
Hunderten von Toten. Nicht nur auf dem Land, auch hier in der Stadt!“
Alf
verstand es wirklich die Söldner aufzumuntern. Wie bestellt
lungerten an einer Bude in der Fladenbrote gegrillt wurden, mehrere
Kerle herum die ihren schwarzen Brüdern aus der Bronx aufs Haar
glichen. Sie trugen dieselben weiten Hosen und Basketballshirts, die
die Söldner aus den zahlreichen Rappervideos von MTV kannten.
Jeder hatte soviel Gold um den Hals und den Handgelenken, dass der
arme Fladenbrotgrillkoch vom reinen Goldwert des Schmuckes seine
eigene „Gegrilltes Fladenbrot Schnellrestaurantkette“
hätte eröffnen können. Das einzige was die Burschen
hier in Lagos von ihren Pedanten aus den Videoclips unterschied,
waren die Kalaschnikows und G3-Gewehre, die neben ihnen lehnten.
Die
Söldner schälten sich so unauffällig wie möglich
vorbei. Alf lotste sie zwischen den Ständen hindurch. Die
Stiefel der Söldner blieben knöcheltief im Matsch stecken
und es roch sehr stark nach Scheiße.
„Hier
sind wir, das ist der Laden von Bob Doherty. Hier kriegt ihr die
besten Töpfe von ganz Lagos.“
Durch
einen verschlissenen Vorhang traten sie von hinten in die Bude. Sie
war erstaunlich groß. Drei Männer saßen auf
Schemeln zwischen Pfannen, Töpfen, Tigeln und Schalen. Die
meisten waren aus Verkehrschildern gemacht.
Einer
der Männer war alt und hatte weißes Haar und trug ein
langes wallendes Gewand. Ein Baby saß auf seinem Schoß
und wurde von ihm mit in Milch getauchten Weißbrotstücken
gefüttert. Der auffälligste Mann war ein Weißer
Anfang dreißig, der ein weißes Hemd trug, unter dessen
Achseln sich große Schweißflecken befanden. Er war
sichtlich nervös, wischte sich immer wieder über die Augen
und hielt das Gelände vor der Bude im Auge. Der dritte Mann, war
ruhiger, hatte einen ungepflegten Bart und trug einen zerschlissenen
Anzug, der an mehr als einer Stelle geflickt werden musste. Es war
eindeutig Maurice Renard. Der ältere Mann sah zu ihnen auf.
„Ich
glaube das ist der junge Adolphus Diffa.“ Er hielt den Kopf
schräg. „Bist du hier um endlich meine Tochter zu
heiraten? Ich habe immer noch den Verdacht, dass ihr zweites Kind von
dir ist. Aber ich sehe, du hast Freunde mitgebracht.“
Der
Weiße schreckte auf, als er die Söldner sah, sprang auf
und richtete ein Messer auf Phoenix Brust.
„Wer
seid ihr? Schickt euch Barringer?“
„Nimm
das Messer von meiner Nase weg, sonst nehm ich’s dir ab.“
Antwortete Phoenix und sah zu Renard.
„Sind
das Freunde, Alf?“
„Ja
Mister Renard. Ihr Fräulein Schwester hat sie engagiert. Wir
bringen Sie sicher nach Hause.“
„Ich
bin froh das zu hören, aber ich weiß nicht, ob wir dort
sicher sind. Diejenigen die mich entführt haben, sind hinter mir
her. Wir haben gesehen, wie ein Hubschrauber von ihnen auf dem
Flughafen gelandet ist. Sie suchen wohl hier in der Gegend nach uns.
Wir müssen uns beeilen. Sie dürfen uns nicht hier bei Ben
finden.“
„Du
weißt Maurice, dass meine Hütte auch deine Hütte ist.
Du hast viel für mich und meine Familie getan und du tust noch
mehr für Afrika. Du weißt, dass du immer zu mir kommen
kannst, wenn du Hilfe wie jetzt brauchst.“ Das Baby
verschluckte sich an einer Brotkruste und begann zu husten. Ben legte
es auf den Bauch und klopfte ihm auf den Rücken. Das Kleinkind
spuckte das Brotstück aus und begann zu weinen. Ibo musste
unwillkürlich an den toten Säugling denken, den er gesehen
hatte, schob den Gedanken aber schnell wieder beiseite und
konzentrierte sich auf das Wesentliche. Sie hatten Maurice Renard
gefunden. Er würde in wenigen Stunden wieder im Kreise seiner
Liebsten sitzen. Aber sie hatten nichts dazu beigetragen. Renard war
selbst aus den Händen seiner Entführer entkommen. Er und
die anderen Söldner kamen sich ein bisschen überflüssig
vor, als sie aus der Hütte traten. Renard schien es eilig zu
haben, von hier wegzukommen. Die Söldner konnten es durchaus
verstehen. Es war heiß. Die Sonne brannte senkrecht auf das
Hüttenmeer hinab. Wenigstens war alles schön bunt. Die zu
Verkaufsständen mit integrierter Wohnung umgebauten VW-Buse
waren in den grellsten Farben lackiert und die Frauen trugen hellrote
und grüne Wallgewänder. Phoenix war fast versucht einen
Blick auf das reichhaltige Angebot an CDs zu werfen, das die Händler
an ihren Ständen ausgebreitet hatten. Hier war zwar garantiert
nichts original, aber sicherlich wesentlich billiger als in
Westeuropa. Aber mit schnellen Schritten gingen sie durch das
Gedrängel. Sie waren begierig zu erfahren, wie Renard fliehen
konnte und wer der Weiße bei ihm war.
Ihre
kleine Gruppe zog viel Aufmerksamkeit auf sich. Vier Weiße
waren schließlich nichts Alltägliches hier auf dem Markt.
Sie erreichten den Rand des Marktes, wo eine Teerstraße begann.
Auf der anderen Seite befand sich hinter einem Zaun das Flugfeld, wo
ihr Wagen stand. Von den Müllhaufen dort, oder vielleicht von
noch weiter dahinter, blies ein leichter Wind Verwesungsgeruch
herüber. Eine junge Frau, die ihr Baby in einem grünen
Tragetuch auf den Schultern trug, sah die Gruppe Weißer aus
großen Augen an. Ein klappriger Laster verließ den Markt
und die in den Boden gegrabene Fahrrinne, und bog auf die Teerstraße
ein. Als er die Sichtlinie wieder freigab, war die Frau verschwunden.
An ihrer Stelle stand ein Soldat in Tarngrün und einem braunen
Barett. In den Händen ein FN-FAL Gewehr. Ypsilon sah ihn als
erster und blieb stehen. Sein Blick glitt über den Bewaffneten,
50 Meter entfernt, hinweg und über die Köpfe der
Marktbesucher. Sofort erfasste er mit seinen scharfen Augen einen
zweiten Uniformierten auf einem kleinen Parkplatz am Rand der Straße,
der dort mit einem Parkplatzwächter redete. Er hatte ein ungutes
Gefühl, ging aber weiter. Plötzlich stieß der
unbekannte Weiße, die Söldner wussten nicht, dass es sich
um Alexander Smith handelte, einen Fluch aus. „Scheißdreck.
Das ist einer von Courtlands Leuten! Wir müssen uns verstecken.“
Er drehte sich abrupt um und rannte weg. Das hätte er besser
nicht getan. Denn nun wurde der Soldat auf sie aufmerksam und begann
die Straße zu überqueren. Die Söldner hatten nicht
lange Zeit zu überlegen, was sie tun sollten. Renard nahm ihnen
die Entscheidung ab, indem er hinter Smith herrannte. Der Soldat,
vielleicht noch dreißig Meter entfernt schrie „Stop!“
und legte das Gewehr an.
„Deckung!“
brüllte Phoenix und sprang, entgegen besserer Einsicht in die
Schusslinie. Ibo und Ypsilon stoben nach rechts und links. Den Feind
verwirren, ihn überlegen lassen, auf wen er schießen
sollte. Der Söldner der Sierra Mining Cooperation zögerte
einen Moment zu lange.
Er
hatte einen unbekannten Weißen im Schussfeld, aber er sollte
doch Renard töten! Dies war sein letzter Gedanke, als zwei
Kugeln vom Kaliber 9mm in seine Brust einschlugen. Er torkelte zurück
und drückte ab. Aber die Kugel ging in die Luft. Ibo legte die
Five-Seven auf ihn an. Drei mal zuckte sein Zeigefinder, dann fiel
der Getroffene endlich auf den Rücken. Aber er lebte immer noch.
Ypsilon stürmte vor, rannte auf den am Boden Liegenden zu, blieb
drei Meter vor ihm stehen und richtete die Glock 18 mit beiden Händen
auf seinen Kopf. Der Uniformierte wollte mit letzter Kraft sein
Gewehr heben, konnte aber die Bewegung nicht mehr ausführen.
Eine einzelne Kugel aus Ypsilons Waffe drang in der Mitte seiner
Stirn ein und ließ seinen Hinterkopf aufplatzen. Die Menge
stand nur einige Sekunden unter Schock. Dann wurde rings um sie herum
ein Geschrei angestimmt. Die Frauen kreischten und rannten mit
wehenden Rocken davon, die Händler sahen auf die Söldner
mit den Waffen in der Hand und packten hektisch ihre Waren ein,
während sie Schimpftiraden anstimmten. Ein kleiner Junger schrie
nach seiner Mutter. Überall war Bewegung. Alle rannten
durcheinander.
Phoenix
stand mitten in diesem Gewimmel, wie Ibo eine FN Five-Seven in der
Hand, und wirkte leicht abwesend. Er sah auf den toten Soldaten, dem
er lebensmüde vor den Lauf gesprungen war um Renard zu schützen.
Wo war Renard? Er war zwischen den Hütten verschwunden. Alf
stand noch da.
„Alf!
Renn zum Wagen, hol ihn her. Ypsilon geht mit! Wir holen Renard!“
Mit
diesen Worten gab er Ibo ein Zeichen ihm zu Folgen. Sie sprangen
durch den Matsch und zwischen der Bude eines Gemüsehändlers
und eines Wunderheilers hindurch.
Ypsilon
kauerte neben dem Soldaten, den er eben exekutiert hatte, und
versuchte Alf über das allgemeine Chaos klarzumachen, er solle
über die Straße zum Flugfeld laufen, während er
gleichzeitig nach dem zweiten Soldaten Ausschau hielt, der gerade
noch auf dem Parkplatz gestanden hatte.
Er
hatte die Schüsse gehört und kam gerade die Straße
hinaufgerannt und suchte seinen Kollegen. Den konnte er nicht sehen,
weil er auf dem Boden lag und um ihn herum zahlreiche Autos standen,
deren Besitzer entweder aufgebracht hupten oder das Weite gesucht
hatten und jetzt aus sicherer Entfernung beobachteten. Endlich setzte
sich Alf in Bewegung und überquerte die Straße. Ypsilon
lief geduckt zwischen den Autos hindurch und dann durch die Menge am
Rand der Straße, die vorsichtig zurückwich.
Smith
rannte so schnell er konnte. Sie hatten ihn gefunden. Der Mann in der
Uniform war einer von Lawrence Courtlands Leuten. Courtland war von
Barringer geschickt worden Renard zu töten. Er hatte Renard
befreit. Er hatte Courtland betrogen. Er hatte Barringer betrogen. Er
war ein Verräter. Sie würden ihn töten. Courtland
würde ihn töten. Er musste laufen. Er musste weg von hier.
Er wollte zurück nach New York zu seiner Frau und dem kleinen
Alex. Worin hatte er sich nur verwickeln lassen? Diese Leute hatten
Gewehre und Pistolen, sie töteten Menschen. Das war nicht sein
Leben. Er war ein Bürohengst, er wollte damit nichts zu tun
haben.
Eine
Reihe Hütte waren zu einem Quadrat angeordnet. Die offenen
Fronten nach außen gekehrt. In diesem so gebildeten Hof türmte
sich Müll und lagerten die Händler ihre Ware. Smith hoffte
dort Schutz zu finden.
Ein
Korb kam ihm in den Weg. Smith stolperte darüber und landete auf
Händen und Knien.
„Hallo
Mister Smith. Schön Sie zu sehen. Sie haben sich gar nicht
verabschiedet, als sie uns gestern Nacht verlassen haben.“
Smith
hob mit vor Schrecken geweiteten Augen den Kopf. Schwarze Stiefel,
eine gefleckte Tarnhose, ein Pistolenholster, eine Tarnjacke im
gleichen Muster und zwei kalte, dunkle Augen. Smith sah Courtland zum
ersten Mal direkt ins Gesicht ohne seinem Blick auszuweichen.
Braungebrannt war es und wie Leder. Zwei lange, tiefe Falten liefen
von der Nase zu den beiden Mundwinkeln. Die Augenbrauen waren schmal
und wie mit dem Lineal gezogen. Seine Haare waren dunkelgrau und nach
hinten gekämmt, was die tiefgefurchte Stirn höher
erscheinen ließ und ihm zusammen mit seinen eisenfarbenen Augen
etwas inquisitorartiges verlieh.
„Wo
ist Renard?“
Smith
zitterte und war unfähig zu antworten.
„Renard.
Wo ist er?“ und dann in schärferen Tonfall. „Antworten
Sie mir!“
Ein
Tritt von den schweren Stiefeln nahm Smith den Atem und ließ
ihn zusammen krümmen.
„Sie
verdammter Idiot. Sie haben einen riesigen Fehler gemacht. Sie haben
doch nicht wirklich geglaubt, dass Sie entkommen können? Sagen
Sie mir jetzt wo Renard ist.“ Courtland bückte sich zu
Smith nach unten. Der schloss die Augen. Plötzlich spürte
er kalten Stahl an seiner Schläfe. „Ich drücke ab. Wo
ist Renard. Ist er hier?“
„Captain!“
Courtland
hob den Kopf. Thomas Highfield, ehemals Sergeant First Class der
britischen Armee, kam zwischen den Hütten hindurch. Einen
Gefangenen vor sich her schiebend. Es war Renard.
„Gut
gemacht Sergeant. Dann hätten wir die ganze Party ja beisammen.“
Er blickte sich um. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie waren von
den Rückwänden der Buden umgeben. Hier war so etwas wie der
Hinterhof der Marktleute. Wäsche hing an Leinen und eine
angebundene Ziege kaute auf den Graßhalmen herum, die neben der
öffentlichen Latrine hervorragend wuchsen.
„Fesseln
Sie seine Hände und verbinden Sie ihm die Augen.“ sagte
Courtland und Highfield beeilte sich seinen Befehl zu befolgen. Er
zwang Renard in die Knie und hänge sich sein FAL-Gewehr um die
Schulter um beide Hände frei zu haben. Renards Handgelenke
wurden von einem Leinenstrick zusammengezurrt und ein Halstuch um
seine Augen gebunden.
„Gut.
Smith?“ Courtland drehte sich zu dem am Boden liegenden um.
„Einen bekannten Journalisten hier zu erschießen könnte
Unannehmlichkeiten bereiten. Was leider nicht für Sie gilt. Sie
armer Tourist, der versehentlich in einem bösen Viertel
ausgestiegen ist. Sagen Sie Ade.“ Er hob die Pistole und
richtete sie auf Smiths Schläfe.
„Hey
Men!“
Ein
schwarzer Bursche in Adidas Sporthosen und einem T-Shirt sprang
zwischen zwei Buden heraus und hatte ein G-3 Automatikgewehr im
Anschlag. Er schrie auf Ludu herum und niemand verstand ein Wort.
Aber das brauchte man auch nicht. Es reichte ihm ins Gesicht zu
sehen. Sein Puls war wohl bei um die 180 Schläge pro Minute.
Der
Hammer von Courtlands Automatik war gespannt. Er brauchte seinen
Finger nur ein paar Millimeter nach hinten bewegen und Smith wäre
Geschichte. Aber Courtland war ein altgedienter Soldat und
vorsichtig. Der junge Bursche war offensichtlich sauer. Aus welchem
Grund auch immer. Courtland konnte nicht vorhersagen, wie dieser Kerl
reagieren würde, wenn er jetzt abdrückte und Smith
erschoss. Das musste warten. Der Kerl mit dem Gewehr war gefährlich.
Jetzt fuchtelte er mit der Waffe vor Highfields Gesicht herum und
schrie ihn an. Der Wahlhebel war auf Voll-Automatik gestellt. Beide
wussten, was ein Feuerstoss aus einer Waffe in Kaliber 7,62 ×
51mm NATO anrichten konnte. Und wie der Bursche aussah, würde er
erst wieder den Finger vom Abzug nehmen, wenn er alle seine zwanzig
Kugeln verschossen hatte.
Courtland
ließ seine Z88 sinken und versuchte mit dem Kerl zu verhandeln.
„Hallo,
jetzt werde mal bitte wieder ruhig. Was hast du für ein
Problem?“ Aber entweder verstand der Angesprochene kein
Englisch oder er wollte es nicht. Er brüllte Courtland an und
man brauchte kein Ludu zu sprechen um zu verstehen, dass es so was
wie „Halt deine verdammte Fresse!“ heißen musste.
Plötzlich
begann Renard zu sprechen. Mit ruhiger gefasster Stimme sagte er
langsame Worte zu dem jungen Mann. Der sah überrascht zu dem am
Boden knienden Mann und hörte zu. Renard sprach Ludu, das hatte
Courtland nicht gewusst, aber er hätte es sich denken können.
Es war die meistverbreitete Eingeborenensprache hier in Nigeria. Der
Mann mit dem Gewehr schien ruhiger zu werden. Er antwortete Renard,
schien Fragen zu stellen und machte mit dem Kopf eine Bewegung in
Richtung Courtland. Renard machte eine bejahende Bemerkung auf Ludu
und der Bursche hob sein Gewehr in den Anschlag.
Scheiße!
Was hatte Renard gesagt?! Er musste den Kerl beschwatzt haben ihm zu
helfen. Die beiden hatten sich verbündet! Ging es Courtland
durch den Kopf.
Der
Junge, er war vielleicht siebzehn, drückte ohne Vorwarnung ab.
Courtland zuckte zusammen, aber er hatte nur in die Luft geschossen.
Drei oder vier Kugeln verließen den Lauf. Dann richtete er die
Waffe wieder auf Courtlands Brust. Courtlands Ohren dröhnten von
dem lauten Knall der Schüsse.
„Drop
it down! Drop it down!“ schrie der Bursche ihn an. Courtland
ließ den Berettanachbau fallen und sah aus den Augenwinkeln,
wie Highfield mit der linken Hand langsam zum Kolben seines Gewehres
fuhr.
In
diesem Moment kamen zwei weitere Schwarze zwischen den Buden
hindurch. Sie trugen weiße Trainingshosen und weite Shirts. Der
eine hatte einen Colt in der goldberingten Hand, der andere trug eine
chinesische Kalaschnikow. Sie waren eindeutig Mitglieder der
Yoruba-Gang, die den Markt kontrollierte.
Der
Junge mit dem G-3 ließ einen Wortschwall los und zeigte dabei
mit der linken Hand auf Renard, der immer noch mit verbundenen Augen
da kniete. Der mit der Kalaschnikow, der gleich mehrere schwere
Goldketten um den Hals trug und seine Haare auf wenige Millimeter
kurzrasiert hatte gab dem mit dem Colt ein Zeichen. Er trieb
Highfield von Renard weg und beschimpfte ihn.
Der
Boss mit der AK fuhr Courtland an.
„Was
sucht ihr hier. Wer seid ihr?“
Courtland
suchte nach einer guten Erklärung, ihm fiel aber gerade keine
ein. „Wir suchen diesen Kerl da drüben. Er hat uns
beklaut.“
„Wer
ist ‚uns’?“
„Die
Sierra Mining… äh die Millers Mineral Exploring
Association. Wir bauen Zinn in der Nähe von Oyo ab.“
„Ich
kenne die Mine. Euch gehört das Flugzeug das hier jede Woche
landet und die neuen Arbeiter mitnimmt.“
„Ja,
wir sind übrigens sehr glücklich, dass Sie hier sind. Wir
könnten Hilfe gebrauchen diese beiden Diebe in das Flugzeug zu
bringen. Sie und Ihre Männer würden reichlich belohnt
werden.“
Der
Yoruba-Gangster schien über das Angebot nachzudenken.
„Nenn
mir einen Grund, warum ich dich nicht auf der Stelle umlegen
soll?“ “Wegen des Geldes. 100 Dollar? Wie klingt
das?“ “Arschloch. Legst du vielleicht noch ein paar
Glasperlen und Glöckchen dazu? Ich bin nicht so blöd wie
ich aussehe. Ihr seid stinkreiche Weiße. Ihr holt da draußen
nicht nur Zinn sondern auch Gold aus der Erde und ihr pumpt Öl
aus dem Meer. Das ist euer Teil des Geschäfts, unser Teil ist
die Sicherheit. Wir schützen die Leute hier vor der Armee und
der Polizei. Und wir sorgen auch dafür, dass niemand von unsren
Jungs oder von den Haussa und Ibos etwas vom eurem Eigentum stiehlt
oder Drogen auf den Firmengeländen verkauft. So ist der Deal. So
haben wir es schon immer gehalten. Ihr könnt ihn Ruhe das Land
ausbeuten und wir können in Ruhe unseren Geschäften
nachgehen. Im Deal war jedoch nicht mit in Begriffen, dass Ärsche
wie ihr mit euren schicken Uniformen und mit Waffen in unser Gebiet
kommt und Leute abknallt! Wir sind hier die Herren, ihr seid es in
euren Minen! Leert eure Taschen aus und dann nehmt euren Gefangenen
und…“ Highfield war vorgesprungen und hatte das
Handgelenk des Kerls umklammert, der ihm sein Gewehr abnehmen wollte.
„Nein
nicht Thomas!“ brüllte Courtland aber es war zu spät.
Der Sergeant rammte dem Gangster sein Messer von unten in Brustkorb
und warf ihn zu Boden.
Courtland
fluchte und trat einen Schritt nach vorne. Sein rechter Fuß
fuhr blitzschnell nach oben und die Spitze des Timberlandstiefels
traf das Kinn seines Gegenübers. Der Unterkiefer des Burschen
mit dem G-3 krachte hart auf den Oberkiefer und der Kopf schlug in
den Nacken. Er hatte ihm Möglicherweise das Genick gebrochen,
aber Courtland hatte keine Zeit sich zu vergewissern, denn der
Anführer der Gang stimmte einen Kampfschrei an und riss seine
AK-47 hoch. Er hatte wohl keine sehr große Kampferfahrung, denn
die Waffe war nicht entsichert. Schnell bemerkte er seinen Fehler und
stellte den Hebel auf Einzelschuss, aber es war zu spät für
ihn. Highfield hatte den Colt seines Opfers in der Hand und seine
Waffe war entsichert. Er zog das ganze siebenschüssige Magazin
durch.
Courtland
brauchte seine Z88 gar nicht mehr abzufeuern. Mit was er nicht
gerechnet hatte war Smith. Der winselnde Wurm sprang auf und
umklammerte Courtlands Beine, so dass dieser das Gleichgewicht verlor
und hinfiel. Highfield stürzte herbei um den lästigen
Burschen endlich zu erschießen.
Ibo,
der in dieser dicht bebauten Umgebung sichtlich aufblühte und
sein ganzes Talent für den Häuserkampf ausleben konnte,
hatte die Schüsse als erster geortet. Den Rücken gegen die
Holzwand einer mobilen Garküche gedrückt, schlich er
langsam vorwärts. Seine Pistole hielt er in beiden Händen
und mit dem Lauf nach oben vor seinem Gesicht. Sein Blick war in die
Ferne gerichtet. Phoenix war hinter ihm. Sie mussten jetzt ganz in
der Nähe sein. Plötzlich stürmte eine gebückte
Gestalt in den schmalen Durchgang zwischen den Verkaufsständen.
Ibo hätte beinahe geschossen, bevor er merkte, dass der
Angreifer so gebückt lief, weil seine Hände auf dem Rücken
zusammengebunden waren und er nicht sehen konnte. Er hielt ihn auf,
warf ihn fast zu Boden. Der Gefesselte brüllte und trat um sich.
Phoenix riss ihm die Binde von den Augen.
„Ruhig.
Wir sind es. Wir bringen Sie sofort hier raus.“
„Gott
sei gedankt. Gut… Alexander, wir müssen Alexander da raus
holen.“
Phoenix
schnitt ihm mit seinem scharfen Taschenmesser die Fesseln durch. Er
machte ein kummervolles Gesicht. Ihr Auftrag war es Renard in
Sicherheit zu bringen, nicht irgendeinen Begleiter. Aber dieser
Bursche hatte Renard befreit und so würde Renard ihn nicht
einfach hier zurück lassen. Phoenix entschied sich, diesen
Alexander Smith mitzunehmen. Er nickte Ibo zu und schob Renard
zwischen ein paar leere rostige Ölfässer. “Bleiben
Sie hier. Ducken Sie sich und…“ Phoenix riss eine alte
Plane vom Dach der Hütte „und decken Sie sich damit zu.“
Renard tat wie ihm aufgetragen wurde und Phoenix folgte wieder Ibo,
der das Ende des Durchgangs zwischen den beiden Hütten erreicht
hatte. Ibo machte einen beherzten Schritt zur Seite aus der
Deckung.
Courtland
und Smith waren in eine Keilerei am Boden verstrickt. Der hagere
Brite bekam gerade den Kopf Smiths zu fassen, aber der drückte
ihm einen Finger in die Nase und drei weitere in den Mund, während
er kräftig daran zog.
„Verdammt,
Sergeant! Helfen Sie mir vielleicht?!“ brüllte er als
Smiths Hinterkopf gegen den Boden schlug. Highfield stürzte
herbei und trat Smith in den Bauch.
Aber
Smith ließ nicht los. Der Schmerz in seinem Bauch war riesig,
aber noch mehr schmerzte sein Kopf, den Courtland immer wieder auf
den Boden schlug. Aber der schwächliche New Yorker ließ
nicht los. Er spürte, dass seine Finger eine verwundbare Stelle
in Courtlands Gesicht gefunden hatten und er zog mit aller Gewalt
daran. Blut floss über seine Hand. Courtland jaulte auf. Dann
hörte er nur noch wie eine Waffe ganz knapp neben seinem Ohr
entsichert wurde.
Ibo
hatte das breite Kreuz Highfields im Visier und drückte ab. Das
kraftvolle Projektil der Five-Seven traf die Lunge des Soldaten und
blieb darin stecken. Highfield konnte nicht mehr abdrücken und
Smith den Schädel wegblasen. Wie gelähmt blieb er stehen,
als der dumpfe Schlag seinen Körper erschütterte. Es
knisterte in seinen Ohren und ein Schmerz breitete sich über
seine ganze Brust aus. Ein zweiter Schlag ließ in erzittern,
ein dritter und ein vierter in kurzer Folge rissen sein Fleisch aus
dem Körper und zerfetzten seine Blutgefäße. Die
wertvolle rote Körperflüssigkeit drang aus mehreren Wunden
seines Körpers, schoss geradezu heraus. Sein Blutdruck fiel
rapide und viel zu schnell ab. Highfield wollte sich hinsetzten, bis
er merkte, dass er nicht mehr stand, sondern längst mit dem
Gesicht auf dem Boden lag. Das war das letzte, woran er sich erinnern
konnte, bevor sein Gehirn nicht mehr ausreichend durchblutet wurde.
Courtland
sah aus einem Auge, wie sein Sergeant, den er seit fünf Jahren
kannte, von mindestens vier Kugeln getroffen zu Boden fiel. Kraft und
gleichzeitig Todesangst durchdrang seinen Körper bei diesem
Anblick und er packte Smiths Kopf mit beiden Händen und schlug
ihn brachial auf den Boden. Unglücklicherweise kam ein Stein
zwischen dem Erdboden und der Schädeldecke zu liegen und Smith
hatte plötzlich das Gefühl sein Kopf würde gespalten.
Dann wurde es Nacht um ihn.
Phoenix
hatte seine schwere Sig Sauer P229 aus dem Holster gezogen und
Courtlands Brust im Visier. Er wollte eben abdrücken als hinter
ihnen Geschrei losbrach.
Die
Yoruba hatte vor nicht einer Woche eine schwere Auseinandersetzung
mit den Haussa gehabt. Es war um den Verkauf gestohlener Autos
gegangen. Es hatte über fünfzig Tote auf beiden Seiten
gegeben. Seitdem hatten die Yoruba eine ständige Präsenz
von mehreren Dutzend Bewaffneten auf dem Oshidi-Markt und dem
angrenzenden Flugfeld, über den 50% des Rauschgiftschmuggels für
Lagos abgewickelt wurden.
Als
die ersten Schüsse ertönten, waren zwei der Mitglieder der
ethnischen Yoruba-Miliz zur Quelle des Lärms gegangen. Als
weitere Schüsse ertönten, stürmte nun eine ganze Meute
Bewaffneter herbei.
Phoenix
sah, besser gesagt spürte, in letzter Minute den von hinten
anstürmenden Schwarzen, der eine Machete schwang, mit der er
wohl Ibos und seinen Kopf in kleine Stücke hacken wollte.
Drei
.357 Vollmantelgeschosse belehrten ihn eines besseren.
Courtland
nutzte die Pause und rollte sich in Sicherheit. Die Kugel aus Ibos
Pistole traf nur den Boden, auf dem der Brite eben noch neben Smith
gelegen hatte.
Phoenix
stürmte vor und bückte sich im Laufen um die AK-47, die bis
vor zwei Minuten noch zu dem Besitz eines Yoruba-Gangleaders gehört
hatte, aufzuheben. Der junge B&HMP Söldner ließ sich
neben dem erschlafften Körper Smiths fallen und fühlte mit
seiner linken Hand nach dessen Puls. Sie waren im Kampfgebiet. Mitten
auf einer künstlichen Lichtung zwischen den Gebäuden, ohne
Schutz und Deckung. So mussten sich die Ranger 1994 in Mogadischu
gefühlt haben. Ein Kampfschrei ertönte aus vielen
verschiedenen Kehlen und drei Yoruba stürmten zwischen den
Häusern heraus.
„Idioten.“
dachte Phoenix und drückte ab. Die Kugel riss einem der
Angreifer den Kiefer weg. Einer der beiden anderen schien intelligent
zu sein und ließ sich zu Boden fallen. Der andere war blöd
und rannte weiter. Das G-3 Gewehr gegen die Hüfte gestemmt und
auf Dauerfeuer gestellt. Die Kugeln fächerten über den
halben Hof, waren aber alle gut einen Meter zu hoch um Phoenix zu
verletzen.
Die
AK war in einem miserablen Zustand. Es tat einem Scharfschützen
wie Phoenix innerlich weh, den viel zu harten Abzug zu drücken
und zuzusehen, wie der lockere Lauf nach dem Schuss vibrierte. Aber
das Gewehr tat seinen Dienst. Phoenix hatte auf den am Boden
liegenden Gangster gezielt, der eine größere Gefahr war
und ihn am Schlüsselbein getroffen.
Der
andere wurde, als er höchstens noch acht Meter von Phoenix
entfernt war, jedoch nur noch ein leeres Magazin in seinem G-3 hatte,
von Ibo niedergestreckt.
Ibo
rannte über den Hof, die Pistole fest auf den letzten Yoruba
gerichtet. Aber er bewegte sich nicht mehr. Phoenix hatte den am
Boden kauernden zwar nur ins Schlüsselbein getroffen, aber in
einem so dummen Winkel, dass die Kugel jetzt in seinem Herz steckte.
Er war noch schneller tot gewesen, als seine beiden Kumpanen, von
denen einer immer noch lebte, aber in Kürze sterben
würde. “Machen wir, dass wir hier weg kommen!“
schrie Phoenix Ibo zu. Er ließ die AK fallen und packte eines
der G-3 Gewehre am Boden und zog das Magazin heraus. Zwei Patronen
glänzten im Sonnenlicht und nach dem Gewicht zu schließen,
waren noch mindestens zehn weitere darin. Phoenix legte sich Smiths
Arm um die Schulter und richtete ihn auf. Aber die Beine des
Schwerverletzten blieben schlaff und er wurde nur von Phoenix auf den
Beinen gehalten, obwohl er bei Bewusstsein zu sein schien. Kurzerhand
bückte sich Phoenix und ließ den nicht sehr schweren
Weißen auf seine Schultern sacken.
Ibo
warf einen letzten Blick auf den Schwarzen, den er mit den letzten
Kugeln aus seiner Five-Seven erschossen hatte, und der jetzt auf dem
Rücken lag. Seine Augenlieder flackerten und rosa Schaum kam
aus seinem Mund. Ein Lungenschuss. Wie lange würde er noch
leben? Eine Minute, zwei Minuten, eine Viertelstunde?
Es
war seltsam ruhig. Keine Schüsse, keine Sirenen. Nur der Lärm
der Menschenmenge. Aber Cool Ibo wusste, dass der Feind irgendwo auf
sie lauerte. Die Entführer Renards hatten sie in die Flucht
geschlagen, aber die Gangster dieser ethnischen Miliz waren noch
irgendwo hier.
Phoenix
schleppte Smith in Feuerwehrmannmanier über seinen Schultern.
Das erbeutete G-3 Sturmgewehr baumelte am viel zu langen Gurt und
schlug ständig gegen seine Oberschenkel.
Renard
schlug die Plane hoch und kam ihnen entgegen gerannt. “Nicht
hier lang! Da rüber!“
Er
übernahm die Führung. Ibo rannte schnell hinterher und
holte ihn ein. Verdammt noch mal, sie mussten ihn schützen und
wussten nicht einmal ob sie selbst lebend hier raus kamen.
Obwohl
die Schüsse weit zu hören gewesen sein mussten, waren noch
viele Menschen auf dem Markt unterwegs. Sie kauerten in den Hütten
und Buden, die nicht viel mehr als einfache Holzverhaue waren und
blickten auf das weiße Trio, das ungefähr so wenig
Aufsehen erregte wie eine Frau die nackt über den Petersplatz in
Rom läuft, während der Papst seine Osteransprache hält.
Die
beiden Söldner wussten, dass jederzeit ein Yoruba zwischen den
Leuten hervortreten und auf sie feuern konnte. Und beide wussten
auch, dass sie einen dieser Gangster erst von einem Zivilisten
unterscheiden konnten, wenn er die Waffe schon auf sie gerichtet
hatte.
Diese
ganzen, nicht sehr zuversichtlich stimmenden, Erkenntnisse und die
Tatsache, dass Phoenix nur zwei Hände hatte, also entweder Smith
tragen oder seine Waffe benutzen konnte, trieben die Söldner
dazu an, möglichst schnell von hier zu verschwinden.
Sie
kamen zur Straße und sahen den weißen Rangerover und
daneben die hoch aufragende Gestalt Ypsilons. Die Türen waren
offen und Phoenix ließ Smith unsanft hineinfallen und kletterte
sofort hinterher. Renard wurde dazu geschoben und Ibo lies sich neben
ihm in die Polster der auf einmal sehr engen Rückbank fallen.
Ein einzelner Schuss ermahnte sie, dass sie immer noch nicht in
Sicherheit waren.
Alf
startete den Motor und raste los. Ein weiterer Schuss ertönte
und die Heckscheibe des Wagens zersplitterte. Die Söldner auf
der Rückbank legten ihre Köpfe auf die Knie und hielten
sich die Hände schützend über den Kopf, um sich vor
den Glassplittern zu schützen, und allem was diesen Splittern
vielleicht noch folgen mochte. Alf drückte aufs Gas und der
Rangerover raste an den altersschwachen Fahrzeugen vorbei. Als
Ypsilon in den Seitenspiegel auf seiner Seite sah, konnte er mehrere
Gestalten mit Waffen sehen, die auf der Straße standen und mit
den Armen winkten.
Sie
waren in Sicherheit. Sie hatten es geschafft. Alf lenkte den Wagen
sicher auf den nächsten Highway, wo sie prompt in einen Stau
gerieten. Diesmal standen sie. Nur im Schritttempo ging es weiter.
Alf wurde nervös. Die anderen Fahrer ebenfalls. Jeder, der eine
funktionierende Hupe hatte, benutzte sie. Aber es ging nicht
vorwärts.
Es
war an der Zeit sich um Smith zu kümmern. Er war immer noch ohne
Bewusstsein und als Ibo seinen Puls fühlen wollte, hatte er Blut
an den Händen.
„Wir
müssen ihn schleunigst zu einem Arzt bringen!“ rief er
nach vorne.
Alf
war gereizt: „Ihr seht doch, dass hier nichts vorwärtsgeht!“
Ibo
und Phoenix legten ein Kissen unter Smith Kopf und verstauten seine
Glieder im Fußraum so bequem es ging.
Am
Straßenrand hoben zwei Männer gerade einen Toten auf die
offene Ladefläche eines Lasters. Selbst aus einiger Entfernung
sah man das Einschussloch auf seiner Stirn. Auf der Ladefläche
lagen bereits zwei andere Leichen.
Inzwischen
hatten die Bettler den teuer aussehenden Rangerover gesichtet und
kamen angerannt. Sie bettelten in drei Ebenen.
Die
Erwachsenen, viele von ihnen blind, hielten eine Hand vor die
Scheibe, während sie mit der anderen auf das Autodach
trommelten. Die Kinder sahen die im Wagen sitzenden aus selber Höhe
an und bettelten mehr mit ihren traurigen Augen, als mit den Händen.
Von unten schoben sich andere Hände hoch. Die Söldner
brauchten eine Weile um zu begreifen, dass sie zu Beinamputierten
oder Gelähmten gehörten, die auf Skateboards durch den
Verkehr surften. Bald war die Menschentraube so dicht, dass Alf nicht
mehr weiterfahren konnte, auch als vor ihm alles frei wurde. Er wurde
immer nervöser. Ibo auf dem Beifahrersitz holte ein Bündel
CFA-Scheine aus seiner Tasche. Umgerechnet vielleicht 3 Euro und
öffnete das Fenster einen Spalt und reichte das Geld hinaus. Es
wurde ihm aus der Hand gerissen.
„Mach
das Fenster wieder zu!“ brüllte Alf nach hinten und mit
einem Blick nach vorne. „Scheiße jetzt wird es richtig
ernst.“
Ypsilon
folgte seinem Blick, als plötzlich seine Seitenscheibe
zersplitterte. Erschrocken zog er seinen Kopf ein und duckte sich
weg. Eine Hand schob sich durch das Fenster und versuchte den
Türschließer hochzuschieben.
Alf
drückte aufs Gas, obwohl noch immer Dutzende von Bettlern um sie
herumstanden. Die Hand entriegelte die Sperre und die Tür
schwang auf. Geschockt von der schnellen Aufeinanderfolge war Ypsilon
erst jetzt in der Lage zu reagieren. Er griff mit der linken Hand zu
seinem rechten Stiefel, wo ein kurzes, aber ungemein scharfes Messer
mit Plastikhartgriff mit einem Klettverschluss an seinem Fußgelenk
befestigt war. Der junge Mann, der sich mit einer Hand am
Dachgepäckträger festklammerte und mit der anderen Hand
Halt im Inneren des Wagens suchte, trug ein schwarzes, ärmelloses
T-Shirt und ein rotes Bandala um den Kopf. Ypsilon stach zu. Rotes
Blut quoll aus dem Oberschenkel seines Gegners. Der Verletzte
versuchte sich in das Innere des Wagens gleiten zu lassen, aber
Ypsilon war verständlicherweise strikt dagegen, dass der Bursche
ihm auf den Schoß sprang. Der Carnapper, oder welche moderne
Form des Wegelagerers dieser Bursche war, hatte anscheinend nicht mit
der Gegenwehr des Russen gerechnet und sah sich nach seinen Kumpanen
um, von denen einer ein altes Lee Enfield Gewehr in der Hand hielt.
Seine Gangsterkollegen liefen zwar dem Wagen hinterher, waren aber
verständlicherweise zu langsam.
Ypsilon
beschloss der Sache ein Ende zu machen und packte den Burschen am
Hosenbund seiner Jeans. Ein Ruck genügte und der Mann war
schneller im Inneren des Wagens, als er es sich gewünscht hatte.
So schnell, dass er nicht einmal mehr Zeit gehabt hatte, seinen Kopf
einzuziehen und deshalb unfreiwillig Bekanntschaft mit dem harten
Metallrahmen der Tür machte. Derart benommen reichte ein
kräftiger Schubs von Ypsilon aus, um ihn auf den Asphalt zu
befördern.
Der
Wagen hatte schon leicht 40 Meilen pro Stunde auf dem Tachometer und
der Bandit überschlug sich mehrmals, bevor er mit gebrochenen
Gliedern auf der Straße liegen blieb. Ypsilon schloss die
Tür, als ob nichts geschehen wäre.
Die
Söldner auf der Rückbank atmeten auf. Renard beugte sich zu
Smith nach unten.
„Ich
kann seinen Puls nicht finden!“
Ibo
beugte sich vor und suchte mit fachmännischem Griff nach dem
Puls. „Keine Sorge. Sein Puls ist normal. Aber er muss
schleunigst ins Krankenhaus. Gibt’s hier in der Nähe
eins?“
„Ja
schon, aber da können wir ihn nicht hinbringen. Ein Krankenhaus
in Lagos ist der beste Ort um tödlich krank zu werden. Dort holt
man sich die Malaria oder etwas Schlimmeres.“ Antwortete Alf
nach hinten.
„Auf
Victoria Island gibt es ein Krankenhaus für die Reichen und die
Touristen. Dort bringen wir in hin. Alf, fahr schneller.“
„Ja,
Mister Renard.“
Sie
kamen in einer halben Stunde nach Victoria Island. Sie wurden vom
Posten an einer Brücke angehalten, aber Renard und Alf redeten
gleichzeitig auf ihn ein und deuteten auf den verletzten Alexander im
Fußraum. Die Söldner verstanden nur das Wort „Malaria“
worauf der Polizist den Wagen gar nicht schnell genug durchwinken
konnte.
Das
kleine Krankenhaus sah von außen ansprechend aus. Ypsilon und
Phoenix schleppten Smith direkt in die Aufnahme, wo sie jedoch erst
300 Dollar hinterlegen mussten, bevor man Smith in den Operationssaal
schob. Sie wurden wieder nach draußen geschickt.
„Er
wird operiert, wenn ich das richtig verstanden habe. Wir sollten
jetzt zu dem Haus ihrer Schwester fahren, Mister Renard.“
„Ja,
tun Sie das.“ Renard fiel in seinen Sitz zurück. Er war
müde, konnte aber nicht schlafen. Nach fast zwei Wochen hatten
die Leiden seiner Entführung ein Ende gefunden und er hatte noch
immer keine Zeit gehabt es verarbeiten zu können.
Juri
Smornov und sein Co-Pilot Tadeusz lenkten den MI-17 Hubschrauber über
das nächtliche Häusermeer von Lagos auf der Suche nach dem
Flugfeld östlich des Oshodi-Marktes. So etwas wie Fluglotsen gab
es auf den kleinen Flugfeldern nicht und die beiden waren auf ihre
Augen angewiesen. Auf den meisten Flugfeldern gab es auch keine
Beleuchtung, was sie für Flugzeuge nur bei Tageslicht benutzbar
machte. Aber eine gute Hubschrauberbesatzung konnte ihren Vogel mit
Hilfe von Nachtsichtgeräten oder starken Suchscheinwerfern auch
bei Nacht runterbringen. Die Besatzung des MI-17 hatte beides und die
beiden russischen Piloten gehörten zu den erfahrensten, die man
bekommen konnte.
Nachts
bot sich Lagos dem Auge des Betrachters schöner dar, als bei
Tage. Man sah nicht die abertausend Wellblechhütten, die
überquellenden Slums und die Blechlawinen auf den Straßen.
Man sah nur ein Millionenheer von Lichtern. Soweit das Auge reichte.
Gegen den Abendhimmel hob sich die beleuchtete Skyline der City ab
und man hätte fast meinen können, man wäre in einer
normalen Stadt, wenn nicht ab und zu das Mündungsfeuer einer
automatischen Waffe ihre Lichtblitze in die Dunkelheit senden würde.
Juri und Tadeusz unterhielten sich über ihre Mikrofone, während
die sechs Soldaten im Laderaum nur über Ohrenschützer
verfügten.
Ein
rotes Signallicht leuchtete in regelmäßigen Abständen
auf. Tadeusz sah auf seine Karte von Lagos, auf der jedoch nur die
wichtigsten Straßen eingezeichnet waren.
„Ich
geh auf 90 Fuß runter, damit wir etwas erkennen.“
Murmelte der schnauzbärtige Pilot und sah zu, wie der Zeiger des
Höhenmessers nach unten ging. Sie setzten die ON-1
Nachtsichtbrillen ab, da die vielen Lichter der Stadt ihre Augen
blendeten.
„Suchscheinwerfer?“
fragte Tadeusz.
„нет,
wir wollen nicht die ganze Gegend aufschrecken.“ Antwortete
Juri, als er den von zwei 1900 PS starken Klimov Antriebswellen
fortbewegten Hubschrauber in etwa 30 Metern Höhe über die
Slums von Lagos lenkte. Das rote Licht blinkte weiter. Es sah gut
aus. Juri ging in den Schwebeflug. Beide Piloten waren vorsichtig. Es
kursierten Geschichten, dass Banditen falsche Landelichter setzten um
so Helikopter zur Landung zu bewegen und sie dann am Boden
auszurauben.
„Ok,
schalte kurz den Scheinwerfer ein.“
Tadeusz
griff kurz über seinen Kopf und legte einen Hebel um. Kurz
darauf erwachte der mehrere 1000 Watt starke Scheinwerfer unter der
Nase des Hubschraubers zum Leben und leuchtete den Boden weitläufig
aus. Es gab nicht viel zu sehen, nur eine staubige Fläche, die
wohl das Landefeld war.
„Wir
gehen runter. Ihr da hinten, macht euch fertig. Ich weiß nicht,
was uns da unten erwartet.“ Brüllte Juri nach hinten in
den Passagierraum. Er konnte es nicht sehen, aber spürte wie die
sechs Männer in Kampfausrüstung die Magazine ihrer
Sturmgewehre prüften. Es war wie damals mit der Roten Armee in
Afghanistan. Sollten wirklich Banditen dort auf dem Feld warten,
würden sie eine Überraschung erleben, die sie ihr kurzes
Leben lang nicht mehr vergessen würden.
„10
Fuß, wir setzen gleich auf.“ Sagte Tadeusz in dem Moment,
als die Kufen den Boden berührten und eine leichte Erschütterung
durch den Hubschrauber ging.
„Scheiß
Höhenmesser.“ fluchte der Co-Pilot und schaltete den
Scheinwerfer aus.
Die
Rotoren verursachten kleine Mini-Tornados auf der staubigen Piste und
wirbelten auch noch allerlei Zivilisationsmüll auf.
Die
hintere Ladeklappe wurde mit einem Ruck aufgerissen. Paul Decker und
De Valera sprangen mit eingezogenen Köpfen und die AK-74
Sturmgewehre im Anschlag aus dem Helikopter. Als ihre Stiefel den
Boden berührten stürmten sie nach rechts und links
auseinander und ließen sich nach einigen Metern zu Boden
fallen. Die anderen Soldaten folgten ihnen. Der Landeplatz war
sicher.
Der
Lärm der Rotoren verstummte langsam und Decker brüllte über
seine Schulter. „Stanton! Sie zu, dass du Courtland findest!“
Der
schwarze Soldat nahm sein Gewehr in die Armbeuge und joggte zum
Hangar, aber schon nach wenigen Metern tauchte vor ihm eine Gestalt
aus dem Dunkeln auf.
„Decker,
ich kann nicht wirklich sagen, dass ich mich freue dich
wiederzusehen.“ Aus dem Schatten trat Courtland. Sein Gesicht
war wie sein Feldanzug blutverschmiert.
Fasziniert
und unfähig zu sprechen, sah Decker an, was der kleine
Buchhalter Alexander Smith mit dem Gesicht seines Chefs angerichtet
hatte. Seine Unterlippe schien geplatzt zu sein, sein linker
Mundwinkel war so stark eingerissen, dass man das Weiß der
Zähne sehen konnte. Sein linker Nasenflügel hing wie ein
Hautfetzen herab.
„Mein
Gott Courtland, du siehst aus, wie einer, den ich in der Mangel
hatte.“ staunte Decker.
„Halts
Maul!“ spuckte Courtland. „Hawkins, hol den
Verbandskasten aus dem Hubschrauber. Mach ein wenig schneller,
verdammt noch mal!“
Der
Ex-Major der britischen Army setzte sich erschöpft in die Luke
des Helikopters und wartete darauf, dass Hawkins, der am besten den
Sanitäter mimen konnte, ihn verarztete.
Decker
sah sich nervös um und fuhr sich durch die blonden Haare.
Courtland sah ihn finster an. Der sozialgestörte Decker hätte
Courtland nicht beleidigen sollen. Courtland war ein harter Kerl,
verdammt hart. Wäre er nicht verletzt, hätte er Decker wohl
sofort eine geschmiert, als der sich über ihn lustig gemacht
hatte. Er versuchte es mit gespielter Freundlichkeit.
„Ist´s
schlimm?“ Courtland grunzte zur Antwort und verzog sein
Gesicht, als Hawkins die Wunde desinfizierte.
„Nach
was sieht es wohl aus, Idiot. Dieser Hurensohn wollte mir das Gesicht
runterreißen.“
Hawkins
drückte ein Pflaster auf den Mundwinkel des Majors und sah sich
die verstümmelte Nase an.
„Sie
müssen zu einem Arzt, Sir. Da kann ich hier nichts machen.“
„Machen
Sie einen Verband drum und geben Sie mir was Starkes gegen die
Schmerzen, aber ich will noch klar denken können.“
Hawkins
runzelte besserwissend die Stirn und suchte im Medizinschrank des
MI-17 nach einem Opiat.
„Was
habt ihr so lange gemacht? Ich hab euch vor über vier Stunden
gerufen! Warum seit ihr erst jetzt da.“ “Es hatte ein
Weile gedauert bis die zwei Neuen da waren.“
„Verdammt
noch mal. Wäret ihr ohne sie geflogen, glaubst du, dass es ein
Spaß ist vier Stunden mit zerfetztem Gesicht da zu sitzen und
nur einen halb leeren Erstelhilfekasten zu haben und einen Piloten zu
haben, der dich verarzten soll, aber nur kyrillische Schriftzeichen
lesen kann?!“ Courtland fluchte und schluckte drei der Pillen,
die Hawkins ihm gab. „Oh ich hab vergessen, dir würde das
wahrscheinlich sogar Spaß machen, du kranker Irrer.“
In
Decker kam Wut auf, die er nur mühsam unterdrücken konnte.
Er setzte seine olive-grüne Schirmmütze ab und strich sich
durch die Haare.
„Du
armer Irrer. Warum hat der Alte dich geschickt? Damit du die Sache
wieder verbockst, wie damals in Antwerpen und London?“
Es
platzte aus Decker heraus: „Verbockt? Du hast damals Scheiße
gebaut. Vielleicht will der Boss jetzt einfach jemanden hier haben,
der weiß wie man kämpft und sich nicht die Fresse polieren
lässt, wie ein gewisser Major von der Royal British Army ihrer
Queen.“
Courtland
sprang auf und packte Decker am Kragen seines Uniformblousons. „Mit
dir rechne ich auch noch ab, glaub mir das Private Paul Decker.“
Decker
schüttelte ihn wütend ab. Courtland spielte auf Deckers
Degradierung vom Staff Sergeant zum Private an, bevor er unehrenhaft
aus der Armee entlassen wurde. Nachdem er sechs Monate im Bau
verbracht hatte, wegen Körperverletzung eines Vorgesetzten,
Befehlsverweigerung und unangebrachter Brutalität gegenüber
Gegnern, Zivilisten und Rangniedrigeren.
Wäre
der Pilot Juri, in diesem Moment nicht aus dem Hubschrauber gestiegen
und hätte die beiden unmissverständlich aufgefordert ihren
Streit wo anders auszutragen, als unter seinem Hubschrauber, wären
sie wohl aufeinander losgegangen.
So
schaffte es Courtland wieder sein Pokerface aufzusetzen und Decker
brachte es immerhin fertig sich soweit zu beruhigen, dass er den
Gedanken beiseite schob, Courtland die Hoden abzuschneiden und sie
ihm um den Hals zu hängen. Wenigstens vorerst würde er dies
nicht tun.
Courtland
winkte Fahami herbei. Er war der einzige Soldat, der ihm von seinem
Trupp geblieben war. Highfield und der Söldner Philip Spencer
aus Sierra Leone waren tot. Dafür hatte er jetzt sechs neue.
Hawkins, Jim Stanton, Jacques Toruffe, De Valera, Pierre Rohbach und
Brian Rush.
Und
natürlich Paul Decker - der irre Soziopath der sich aus seiner
Zwangsjacke befreit hatte. Er gefährdete sie alle mit seiner
ungezügelten Gewalttätigkeit. Courtland sah sich seinen
Trupp an. Alles Verrückte, Sadisten, Glücksritter und
gescheiterte Existenzen. Typen wie er.
Der
Sikorsky rollte heran. Die Piloten waren nervös. Sie wollten
ihre teuren Maschinen hier raus bringen. Im Laufe der langen
Wartezeit hatten sich immer mehr Menschen aus dem benachbarten Slum
auf dem Flugfeld angesammelt. Nur die Anwesenheit von Courtland,
Fahami und der bewaffneten Crew hatten sie abgehalten, den
Hubschrauber auszurauben. Jetzt wo es dunkel war, stieg die Gefahr
eines Überfalls aber ums Zehnfache. Sie mussten raus.
Alf
öffnete das Garagentor mit einer Fernsteuerung und lenkte den
Wagen mit einem Schwung hinein. Hinter ihnen schloss sich das Tor.
Eine Minute saßen sie alle still. Verarbeiteten das Geschehene.
Dann öffneten Phoenix die Tür und glitt nach draußen.
„Mister
Renard.“ Er hielt der befreiten Geisel die Tür auf. Alf
beeilte sich eine Tür in der Wand der Garage zu öffnen, von
der eine Steintreppe zum Haus hinauf führte. Renard stieg den
Weg mit bedächtigen Schritten hinauf. Er hatte noch immer die
Kleider an, die er am Tag der Entführung getragen hatte. Aber
das Hemd und die Hose waren dreckig und rochen auch ziemlich streng.
Er hatte abgenommen und das Hemd schlotterte an ihm herab. Sein
Gesichtsausdruck war, jetzt nachdem er alles überstanden hatte,
müde und erschöpft.
Oben
öffnete sich die schwere Mahagonitür und Miss Amalia Renard
schwebte die Treppe hinunter. In Bluejeans und ein Männerhemd
gehüllt stolperte sie in ihren Hauspantoffeln auf ihren Bruder
zu. Ihr folgte Astou, die Lebensgefährtin Renards, in ein
traditionelles buntes Kleid gehüllt. In der Mitte der Treppe gab
es eine herzzerreisende Wiedersehensszene, die so auch in einem
dieser Trivialromanen Platz gefunden hätte, die man an der Kasse
eines Supermarktes kaufen kann und die so prägnante Titel wie
„Sehnsucht nach Angelika“ und „Liebe auf Irrwegen“
tragen.
Die
drei Söldner, Gewehre über die Schultern gehängt und
Ausrüstung schleppend, wirkten in etwa so deplaziert wie
Statisten aus einem Steven Seagal Film, die sich im Set geirrt hatten
und unvermittelt am Drehort einer Rosamunde Pilcher Produktion
auftauchten.
Schnell
drückten sie sich an Amalia, Astou und Maurice vorbei und
verschwanden im Haus. Begleitet vom monotonen Summen des großen
Deckenventilators mixte sich Ibo einen Drink der farblich gut zu
seinem grellen Hawaiihemd passte und schaltete den Fernseher ein. Es
lief eine nigerianische Seifenoper.
Phoenix,
ebenfalls einen Cocktail schlürfend, hatte immer noch das G-3
Gewehr umhängen und nahm es jetzt endlich ab. Bis auf ein paar
Kratzer war die Waffe in einem tadellosen Zustand. Eins A Qualität.
Viele Wehrpflichtige in deutschen Kasernen wären wohl froh eine
Waffe in solch guten Zustand zu haben.
Heckler
und Koch Waffen wurden in Lizenz in Nigeria produziert. Stellte sich
nur noch die Frage, wie die Mitglieder einer brutalen, ethnischen
Miliz dann an diese Waffen rankamen. Legal waren sie sicherlich nicht
gekauft. Obwohl, der heutige Tag hatten den Söldnern gezeigt,
dass in Lagos alles möglich war.
Ypsilon
hatte sich ans Telefon gehängt und versuchte eine Verbindung mit
Deutschland herzustellen. 049 war die Vorwahl, aber er bekam einfach
kein positives Rufzeichen. Er würde es später noch einmal
versuchen.
„Was
machen wir jetzt? Ich kann das Büro nicht erreichen.“ War
seine erste Frage, als er sich zu den anderen wandte.
„Unser
Job ist eigentlich erledigt. Wir müssen warten, was unsere
Auftraggeberin sagt. Ob sie uns noch braucht oder nicht.“
Antwortete Phoenix und schaufelte ordentlich Eiswürfel in seinen
Drink.
„Ist
die Gefahr eigentlich gebannt oder werden diese Burschen noch einmal
versuchen Renard zu entführen oder ihn zu töten? Wer ist
dieser Weiße, den wir ins Krankenhaus gebracht haben? Wie
konnte Renard entkommen? Welche Rolle spielte der Weiße dabei?“
Ibo ließ diese Fragen im Raum stehen. Dann fuhr er fort. „Ich
glaube nicht, dass diese Sache schon beendet ist.“
Phoenix
ließ die Flüssigkeit in seinem Glas kreisen und antwortete
schließlich. „Wir müssen warten was Barl und Hieb
sagen, vorher können wir nichts tun. Aber du hast Recht. Wir
sollten vorsichtig sein. Sehr vorsichtig sogar. Diese Soldaten,
Söldner oder was sie waren, haben mir nicht gefallen. Überhaupt
nicht.“
Ypsilon
drehte sich um und versuchte wieder Deutschland zu erreichen.
Von Job
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